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JAGODNOJE (Neu-Jagodnaja, Nowo-Jagodnaja, Nowaja Sosnowka)

Rubrik: Geschichte und Geographie der Ansiedlung der Deutschen im Russischen Reich, in der UdSSR und GUS / Geschichte der Ansiedlung
Früherer Standort des Dorfes Jagodnoje.
Früheres Schulgebäude des Dorfes Jagodnoje (1914). Archiv der Autorin.
Проект церкви в с. Ягодное

JAGODNOJE (Neu-Jagodnaja, Nowo-Jagodnaja, Nowaja Sosnowka), heute nicht mehr bestehende Ortschaft; in der Steppenregion des linksufrigen Wolgagebiets am linken Ufer des Flusses Jeruslan, 40 Werst nordöstlich von Krasny Kut an der Poststraße von Saratow nach Nowousensk gelegene deutsche Kolonie. Von 1871 bis Oktober 1918 gehörte Jagodnoje zum Amtsbezirk [Wolost] Werchni Jeruslan (Bezirk [Ujesd] Nowousensk, Gouvernement Samara). Nach der Gründung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen war das Dorf Jagodnoje bis 1941 Verwaltungszentrum des im Kanton Krasny Kut gelegenen gleichnamigen Dorfsowjets, zu dem 1926 nur das Dorf selbst gehörte.

Die deutsche Kolonie Jagodnoje wurde 1855 von Kolonisten gegründet, die zuvor in den rechtsufrigen Mutterkolonien Jagodnaja Poljana (heute Jagodnaja Poljana, Rayon Tatischewo, Gebiet Saratow) Huck (heute Dorf Splawnucha, Rayon Krasnoarmejsk, Gebiet Saratow), Norka (heute Dorf Nekrassowo, Rayon Krasnoarmejsk, Gebiet Saratow) gelebt hatten und vor allem wegen des in den Mutterkolonien herrschenden Landmangels in die Tochterkolonien übergesiedelt waren. Zusammen mit dem Dorf Jagodnoje wurden in diesen Jahren noch einige weitere Kolonien im linksufrigen Wolgagebiet gegründet. 1858 prüfte das Fürsorgekontor die Frage „Über die Benennung der neuen Kolonien Brunnental, Gnadenfeld, Schönfeld Schöndorf, Jagodnaja u.a.“. Der Name der Kolonie ist an den Namen der Mutterkolonie Jagodnaja Poljana angelehnt, aus der die meisten Bewohner der Siedlung ursprünglich kamen.

1857 lebten im Dorf 92 Familien, die über insgesamt 3.540 Desjatinen Land verfügten. Die Kolonisten waren größtenteils im Ackerbau tätig und auf den Anbau von Weizen spezialisiert (die Saatflächen für Weizen waren etwa dreimal so groß wie die Saatflächen für Roggen). Als die Wolgakolonien in den Jahren 1891/92 von einer Hungersnot heimgesucht wurden, geriet Jagodnoje wie viele andere Städte und Dörfer der Region in eine Notlage. In allen Dörfern des Wolgagebiets wurden Listen der bedürftigen deutschen Bauern zusammengestellt. 1892 waren in Jagodnoje 165 Familien (insgesamt 907 Personen im Alter von über einem Jahr) vom Hunger betroffen. Im Durchschnitt kam auf jede sechsköpfige Familie ein Ernährer, so dass unter den Hungernden zwar nur 125 arbeitsfähige Männer, aber 465 Alte, Frauen und Kinder waren. Nur 33% der Familien hatten eine Kuh, alle anderen Tiere waren bereits geschlachtet. Der Amtsbezirksälteste von Werchni Jeruslan (Bezirk Nowousensk) wandte sich im Januar 1892 mit der Bitte an die Semstwo-Führung, in Jagodnoje und anderen nahegelegenen Dörfern des Bezirks kostenlose Hungerküchen einzurichten. Vom 1. Oktober an bekamen die Bauern ein Lebensmitteldarlehen von 30 Pfund pro Esser und Monat, das sich aber nach Aussagen der Dorfbewohner als „extrem unzureichend“ erwies. Insbesondere für Personen, die über keinerlei sonstige Lebensmittel und nicht einmal über kleinste Vorräte verfügten, reichte die Hilfe gerade einmal für einen halben Monat, „in der zweiten Hälfte litten die Bauern äußerste Not, die ein tragisches Ende zu nehmen drohte.“

In den Jahren der Sowjetmacht gab es im Dorf eine landwirtschaftliche Kreditgenossenschaft einen Genossenschaftsladen und eine Bibliothek. Im September 1941 wurden die Deutschen aus dem Dorf deportiert.

Schule und Erziehungswesen

Bis zum Bau des ersten Schul- und Bethauses im Jahr 1875 fand der Schulunterricht in einem Privathaus statt. Im Jahr 1914 wurde im Dorf ein neuer Backsteinbau errichtet, der als Schul- und Bethaus genutzt wurde. In der praktisch zeitgleich mit dem Dorf selbst gegründeten Kirchenschule lernten die Kinder im Alter von 7-15 Jahren. Neben der kirchlichen Gemeindeschule gab in Jagodnoje seit Ende des 19. Jahrhunderts auch eine Semstwo-Schule, mit deren Gründung die Regierung das Ziel verfolgte, den engen nationalen Rahmen der Konfessions- und Privatschulen zu sprengen und die Kinder auch Russisch und russische Geschichte lernen zu lassen. Im Jahr 1900 wies der Volksschulinspektor den Probst der Wiesenseite J. Erbes an, mehr Geld für den Russischunterricht bereitzustellen und einen zweiten Russischlehrer einzustellen, da auf 500 Kinder durchschnittlich nur ein einziger Russischlehrer komme. Nach den von Pastor Erbes zusammengetragenen Daten zum Stand des deutschen Schulwesen waren im Jahr 1906 317 der insgesamt 2.019 Einwohner Kinder im Alter von 7-15 Jahren, die zum Besuch einer Elementarschule verpflichtet waren. Im Unterschied zu vielen anderen deutschen Siedlungen besuchten in Jagodnoje alle Kinder die Schule. 1906 besuchten 78 Jungen und 39 Mädchen die Semstwo-Schule, an der zwei Lehrer tätig war. In der Kirchenschule lernten 82 Jungen und 118 Mädchen bei ebenfalls zwei Lehrern. In den Jahren der Sowjetmacht wurden sowohl die kirchliche Gemeindeschule als auch die Semstwo-Schule geschlossen und durch eine Grundschule ersetzt. Im Jahr 1930 gab es im Dorf einen der besten Kurse zur Bekämpfung des Analphabetentums im ganzen Kanton.

Religionszugehörigkeit der Bevölkerung und Kirche

Die Kolonisten waren evangelisch-lutherischer Konfession. Die evangelisch-lutherische Gemeinde der Kolonie Jagodnoje gehörte in den Jahren 1864–1905 zum seit dem 22. Juli 1864 bestehenden Pfarrsprengel Schöndorf (heute Dorf Repnoje, Rayon Krasny Kut, Gebiet Saratow). Als dieser im Jahr 1905 in die beiden Pfarrsprengel Schöntal (heute Dorf Dolina, Rayon Fjodorowka, Gebiet Saratow) und Hoffental (heute Dorf Schdanowka, Rayon Krasny Kut, Gebiet Saratow) geteilt wurde, wurde das Dorf Jagodnoje wie auch die deutschen Siedlungen Schöndorf, Schöntal und Schönfeld dem Pfarrsprengel Schöntal zugeteilt, dessen Gründung am 13. Mai 1905 bestätigt wurde.

Ein eigenes Kirchengebäude im traditionellen Sinn hatte die Gemeinde Jagodnoje nicht. In der Anfangszeit wurden die Gottesdienste in einem Privathaus gefeiert. In den 1870er Jahren fasste die Gemeinde den Beschluss, ein geräumiges Schul- und Bethaus zu bauen, das den Status einer Filialkirche hatte. Doch auch dieser im Jahr 1875 fertiggestellte und geweihte Bau genügte schon bald nicht mehr den Ansprüchen der kontinuierlich wachsenden Gemeinde, so dass 1914 im Ortskern ein roter Backsteinbau errichtet wurde, der als neues Schul- und Bethaus dienen sollte und zahlreiche klassische Elemente der typischen deutschen Bauweise wie z.B. ein reliefartiges Mauerwerk und stuckverzierte Fenster aufwies. In unmittelbarer Nähe des Bethauses standen der Holzbau des Küsterhauses sowie ein freistehender hölzerner Glockenstuhl.

Noch vor Baubeginn des neuen Schul- und Bethauses bekamen die Dorfbewohner die Genehmigung, in Jagodnoje eine Steinkirche zu errichten, deren Baupläne der Gouverneur von Samara bestätigte. Doch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die dadurch entfachte antideutsche Kampagne sowie die angesichts von Krieg und Missernten angespannte wirtschaftliche Lage standen einer Umsetzung dieser Pläne im Wege, zumal Jagodnoje als vergleichsweise kleines Dorf nicht über die nötigen Ressourcen verfügte, ein solch großes Bauprojekt kurzfristig umzusetzen. Schließlich setzte die Revolution von 1917 den Plänen endgültig ein Ende.

Mit der Etablierung der Sowjetmacht wurden im Land zahlreiche Maßnahmen eingeleitet, die den Einfluss der Kirche auf Staat und Gesellschaft beseitigen und in letzter Konsequenz der Tätigkeit aller Konfessionen ein Ende setzen sollten. Im Jahr 1925 emigrierte Pastor Karl Zimmer nach Deutschland. Der letzte Pastor der Pfarrgemeinde Schöndorf Georg Schwartz stand, wie aus Archivdokumenten hervorgeht, unter ständiger Beobachtung der sowjetischen Sicherheitsorgane. In einem Bericht der regionalen Kommission zur Prüfung religiöser Angelegenheiten wurde er als „Lischenez“, also Person, der das Wahlrecht und andere bürgerliche Rechte aberkannt waren, und „arglistiger Kirchensteuerverweigerer“ ausgewiesen. Die Zahl der Gläubigen ging praktisch mit jedem Tag unaufhaltsam zurück. Alle Aktivitäten nicht nur der Geistlichen, sondern auch der einfachen Gläubigen standen und ständiger Kontrolle von Seiten der Organe der Staatsmacht.

Ihren Höhepunkt erreichte die antireligiöse Politik nach der im Jahr 1929 erfolgten Annahme der Beschlussfassung „Über die religiösen Vereinigungen“ durch das Allrussische Zentralexekutivkomitee und den Rat der Volkskommissare, durch die die Tätigkeit der religiösen Gemeinschaften weitgehend eingeschränkt wurde. Überall im Land wurden Kirchen geschlossen. An vielen Orten wurden die Kirchengebäude zu Lagerhäusern oder Garagen umfunktioniert oder als nicht den Ansprüchen des Sozialismus genügende Architektur zum Abriss freigegeben. 1931 informierte die regionale Kommission für die Prüfung religiöser Angelegenheiten das Präsidium des Zentralexekutivkomitees der ASSR der Wolgadeutschen in einem geheimen Bericht, dass es in Jagodnoje noch 870 Gläubige gebe, von denen sieben einschließlich von fünf Mitgliedern des Kirchenrats den Status von „Lischenzy“ hätten, ihnen also das Wahlrecht und andere bürgerliche Rechte aberkannt waren. Am 20. Januar 1934 beschloss die Kommission für Kultfragen beim Zentralexekutivkomitee der ASSR der Wolgadeutschen, das Bethaus in Jagodnoje mit der Begründung zu schließen, dass das Gebäude nicht renoviert sei und die Gemeindemitglieder zwei Jahre keine Steuern gezahlt hätten. Da die Gemeinde nicht in der Lage war, die Steuerschuld innerhalb der geforderten Frist von einer Woche zu begleichen, wurde das Bethaus geschlossen. 335 der verbliebenen 369 Gemeindemitglieder sprachen sich für die Schließung des Bethaus aus.

Liste der Pastoren

Pastoren der Pfarrgemeinde Schöndorf, die in Jagodnoje Gottesdienst hielten: Nikolai Reinhold Sprekelsen (1865–1904 ). Pastoren der Pfarrgemeinde Schöntal, die in Jagodnoje Gottesdienst hielten: Andreas Gö(o)rne (1906–08), Karl Zimmer (1908–11), Johann Georg Schwartz (1912–32).

Entwicklung der Einwohnerzahlen

1859 lebten in Jagodnoje 555 Personen, 1883 waren es 1.109 und 1889 1.312 Personen. Nach den Daten der Volkszählung von 1897 hatte Jagodnoje 1.466 Einwohner, von denen 1.457 Deutsche waren. Im Jahr 1905 lebten im Dorf 1.900, im Jahr 1910 2.219 Personen. Nach den Daten der Allrussischen Volkszählung von 1920 hatte Jagodnoje 2.087 Einwohner, von denen ausnahmslos alle Deutsche waren. 1921 gab es 79 Geburten und 308 Sterbefälle. Nach den Daten des Gebietsamts für Statistik des Autonomen Gebiets der Wolgadeutschen lebten in Jagodnoje nach Stand zum 1. Januar 1922 1.580 und im Jahr 1923 nur noch 1.216 Personen. Nach den Daten der Volkszählung von 1926 lag die Gesamteinwohnerzahl bei 1.485 Personen, von denen 1.482 Deutsche waren. 1931 hatte das Dorf 1.858 Einwohner, von denen 1.855 Deutsche waren.

Das Dorf heute

Heute zwischen den Dörfern Dolina (Rayon Fjodorowka, Gebiet Saratow) und Repnoje (Rayon Krasny Kut, Gebiet Saratow) gelegene unbewohnte Ortschaft. Angesichts der Tatsache, dass sich viele der in den Kriegsjahren in das Dorf gekommenen Neusiedler nur schwer an die örtlichen Gegebenheiten anpassen konnten, gingen die Bevölkerungszahlen kontinuierlich zurück, so dass das Dorf im Zuge der in den 1960er Jahren durchgeführten Kampagne zur Auflösung „perspektivloser Dörfer“ schließlich vollständig aufgegeben wurde.

Anders als noch vor zwanzig Jahren, als sich das frühere Jagodnoje dank des mehr oder weniger erhaltenen roten Backsteinbaus der 1914 errichteten Schule leicht finden ließ, weisen heute nur noch einige Reste der Fundamente und Bodenerhebungen an den einstigen Standorten der Häuser auf das frühere Dorf hin. Noch Mitte der 1990er Jahre führte ein zugewucherter Weg zu der halbverfallenen früheren Schule, dem einzigen Gebäude, das mitten in der endlosen Steppe davon zeugte, dass sich an dieser Stelle einmal ein deutsches Dorf befunden hatte. Das Gebäude, das einst die Zierde des deutschen Dorfs dargestellt hatte, wurde um die Jahrhundertwende von aus den früheren Sowjetrepubliken vertriebenen Übersiedlern zerstört, die die hundert Jahre alten deutschen Backsteine nach Aussage örtlicher Hirten beim Bau ihrer in den benachbarten Ortschaften errichteten Wohnhäuser und Wirtschaftsbauten verwendeten.

Literatur

Князева Е.Е., Соловьева Ф. Лютеранские церкви и приходы ХVIII – ХХ вв. Исторический справочник. – СПб., 2001. – Часть I; Немецкие населенные пункты в Российской Империи: География и население. Справочник / Сост.: В.Ф. Дизендорф. – М., 2002; Amburger E. Die Pastoren der evangelischen Kirchen Russlands vom Ende des 16. Jahrhunderts bis 1937. Ein biographisches Lexikon. – Martin-Luther-Verlag, 1988; Nachrichten. – 1937. – 15. März.

Archive

Archive: ГАСО. Ф. 180. Оп. 1. Д. 321; Ф. 637. Оп. 38. Д. 67, 68; Ф. 852. Оп. 1. Д. 137. Л. 1; Д. 148. Л. 45; ГИАНП.Ф. 849. Оп. 1. Д. 834. Л. 57–66, 71; Д. 890. Л. 7; Ф. 1831. Оп. 1. Д. 289. Л. 38; Д. 299. Л. 51.

Autoren: Lizenberger O.A.

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