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EVANGELISCH-LUTERISCHE KIRCHE (ELK) IN RUSSLAND , religiöse Organisation der Gläubigen evangelisch-lutherischer Konfession

Rubrik: Religion
Die restaurierte Jesus-Kirche in Zürich, Sorkino. Die aktuelle Fotografie

Evangelisch-lutherische Kirche (ELK) in Russland, religiöse Organisation der Gläubigen evangelisch-lutherischer Konfession. 

Das in Europa im Zuge der Reformationsbewegung des 16. Jahrhunderts entstandene Luthertum war die nach der Zahl der Gläubigen größte protestantische Organisation.  Nach dem Gesetzbuch des Russischen Reiches war das Luthertum eine in Russland tolerierte Konfession, hatte eine eigenständige Kirchenorganisation und genoss eine Reihe von Sonderrechten und Privilegien. Die Gründe für die mehr als loyale Haltung, die die Regierung der evangelisch-lutherischen Kirche entgegenbrachte, waren historisch gewachsen: die weite Verbreitung dieser Religion in bestimmten Gebieten des Russischen Reichs (Baltikum, Finnland usw.), die Zugehörigkeit vieler Mitglieder der Zarenfamilie zum Protestantantismus vor ihrem Übertritt zur Orthodoxie sowie die Tatsache, dass sie im Gegensatz zu einigen anderen Konfessionen weder zu missionieren noch sich dem Einfluss des Staates zu entziehen versuchte. 

Die Grundlagen der evangelisch-lutherischen Glaubenslehre wurden von M. Luther und Ph. Melanchthon erstmals im „Augsburger Bekenntnis“ („Confessio Augustana“) und im „Konkordienbuch“ formuliert: das Prinzip der Rechtfertigung allein durch den Glauben und nicht durch gute Werke („sola fide“); die Ablehnung der kirchlichen Hierarchie, der vereinfachte Kult; die Abschaffung von Mönchtum und Zölibat; die Anerkennung ausschließlich der Taufe und des Abendmahls als Sakramente (Heirat, Firmung, Krankensalbung, Buße und Weihe sind einfache Rituale); die Ablehnung von Ikonen, der mündlichen Beichte, des Fastens, der Anrufung der Heiligen im Gebet sowie von Totenfeiern, Marienkult und Engeln; die Anerkennung ausschließlich der Heiligen Schrift als  Grundlage des Glaubens („sola scriptura“); die Ablehnung der Heiligen Tradition (Glaubenssymbole, Konzilsbeschlüsse, Apostelschriften usw.); der Gebrauch ausschließlich der Landessprache im Gottesdienst und beim Lesen der Bibel.

Nach der schnellen Verbreitung der Reformation in den deutschen Ländern drang die neue Lehre schon bald auch in andere Länder vor, die wie Schweden, Dänemark oder Livland in unmittelbarer Nachbarschaft Russlands lagen.

Nach Russland kam das Luthertum noch zu Lebzeiten Martin Luthers (1483–1546), fand aber zu dieser Zeit noch keine so weite Verbreitung wie in späteren Jahrhunderten. Die ersten lutherischen Protestanten kamen in den letzten Herrschaftsjahren Vasilijs III. (1524–1533) mit den von diesem eingeladenen ausländischen Spezialisten nach Russland (Waffenmeister und Architekten, Ärzte und Bergbauspezialisten, Künstler und Handwerker, Offiziere und Kaufleute). Unter Ivan IV. (1547–1584) kamen noch deutlich mehr Ausländer nach Russland, die sich nicht mehr nur in Moskau, sondern auch in anderen Städten Zentralrusslands und im Ural niederließen. 1570 führte Ivan IV. persönlich ein Gespräch mit dem evangelischen Prediger der „Böhmischen Brüder“ Johann Rokita und erhielt zunächst mündlich und später in ausführlicher schriftlicher Form Antworten auf zehn Fragen zu den Grundlagen des evangelischen Glaubens. Die Verzögerung der Entsendung von über 100 in russischen Dienst eingeladenen ausländischen Spezialisten aus dem Baltikum diente als Vorwand für den Ausbruch des Livländischen Kriegs (1558–1583), in dessen Folge die Zahl der Protestanten in Russland deutlich anstieg. Bereits im ersten Kriegsjahr wurden nach der Einnahme von Dorpat (Tartu/ Jur'ev) und Narva zahlreiche Kriegsgefangene nach Russland gebracht, mit denen 1558 auch der erste lutherische Prediger T. Brakel aus Dorpat kam, der 1559 Pastor der ersten in Russland gegründeten Gemeinde wurde. Sein Nachfolger Pastor J. Wetterman erlangte Berühmtheit, weil er 1565 die Bibliothek Ivans IV. systematisierte.

Die kriegsgefangenen Livländer, die sich am linken Ufer des Flusses Jausa am Stadtrand von  Moskau in der Deutschen Vorstadt niederließen, errichteten dort 1575/76 eine erste lutherische Holzkirche, die bereits vier Jahre später bei einem Pogrom von Opritschniki zerstört wurde. Die ersten Pastoren dieser Kirche waren Ch. Bockhorn und I. Scultetus. 1584 wurde außerhalb der Stadt eine neue Kirche errichtet. Eine weitere 1601 mit persönlicher Erlaubnis Boris Godunovs in der deutsch-livländischen  Vorstadt erbaute Kirche brannte zur Zeit der Wirren beim Rückzug der Polen aus Moskau zusammen mit der gesamten am Fluss Kukuj gelegenen deutschen Vorstadt ab. 1601 erlaubte Boris Godunov erstmals die Einladung lutherischer Pastoren nach Russland: M. Baer und V. Gulleman. 1602 durften die Moskauer Lutheraner erstmals  Glocken in ihrer Kirche aufhängen. Später war das „andergläubige“ Läuten bis in die 1720er Jahre verboten. Anfang des 17. Jahrhunderts wurde in der lutherischen Gemeinde die erste Kirchenschule gegründet. 1606 erlaubte der Falsche Dmitrij, einen lutherischen Gottesdienst im Kreml abzuhalten. Bereits Ende des 16. Jahrhunderts kamen die ersten größtenteils deutschen Lutheraner nach Archangel'sk, Kazan', Kostroma, Nižnij Novgorod, Tver', Uglič, Jaralav und in andere Städte. Die lutherischen Kirchen hatten zu jener Zeit keine einheitliche Führung und unterstanden der Jurisdiktion des Gesandtschaftsamts (1549–1720). 1629 wurde in Moskau eine Kirche für Reformierte gebaut, deren Pastoren zunächst Buleus und später Karvnikel waren. (Einigen Quellen zufolge hatten die Reformierten in Moskau bereits Ende des 16. Jahrhunderts eine eigene Kirche). Aber die Lage der Protestanten im russischen Staaat war nicht stabil. Nachdem die „Neue Kirche“ 1632 auf Befehl des Patriarchen Filaret zerstört worden war, wurde die „Alte Kirche“ mit der Ernennung ihres Pastors M. Münsterberg zum Propst aller evangelischen Gemeinden des Moskauer Staats zur Hauptkirche. Zar Michail Fedorovič (1613–1645) befahl am 2. März 1643, die zwei lutherischen Kirchen in Moskau niederzureißen.

Als Michail Fedorovič den Lutheranern per Erlass vom 13. Juli 1643 den Bau eines Gotteshauses in der Deutschen Vorstadt erlaubte, rief dies heftige Gegenreaktionen von Seiten der Russisch-Orthodoxen Kirche hervor. Elf orthodoxe Kleriker reichten beim Zar das Gesuch ein, Ausländern die Niederlassung im zentralen Teil Moskaus zu verbieten. Die Gesetzessammlung von 1649 schränkte den Bau lutherischer Kirchen in der Nähe orthodoxer Gotteshäuser ein. Nach Erlass Zar Aleksej Michajlovičs vom 4. Oktober 1652 mussten sich alle andersgläubigen Christen, die nicht zum orthodoxen Glauben übertreten und sich neu taufen lassen wollten, in der neuen Deutschen Vorstadt am Fluss Kukuj niederlassen, wo drei protestantische Kirchen gebaut wurden.

Die Zahl der in Moskau ansässigen Lutheraner stieg mit jedem Jahr. Und auch in anderen Teilen Russlands fanden die protestantischen Ideen in immer größerem Maße Verbreitung. 1616 erschien in Schweden eine „Kurze Darlegung und Belehrung über unseren christlichen Glauben und Gottesdienst in Schweden“ in russischer Sprache, 1628 veröffentlichte die slawische Druckerei in Stockholm Luthers Katechismus. Zu dieser Zeit gab es auch außerhalb Moskaus lutherische Gemeinden mit eigenen Predigern – etwa in Nižnij Novgorod, Tula, Vologda, Rostov, Jaroslav und im Ural. Nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs (1618–1648) wurden infolge der großen Zahl nach Russland geflohener protestantischer Soldaten in vielen russischen Garnisonsstädten bis hin nach Sibirien lutherische Kirchen gebaut. 1662 wurde auf Bitten des Kurfürsten von Sachsen in Moskau eine sächsische lutherische Gemeinde gegründet, der Pastor J.G. Gregorii, der Gründer des ersten russischen Hoftheaters, vorstand. 

Unter Zarin Sofia (1682–1689) herrschte völlige Glaubenstoleranz. In der Zarenurkunde vom 21. Januar 1689 bot sie „allen Vertriebenen evangelischen Glaubens, die unsere Untertanen sein wollen“ an, „ohne jede Befürchtung […] in unser großrussisches Zarenreich zu kommen“. Insgesamt lebten Ende des 18. Jahrhunderts bereits 18.000 Protestanten in Russland.

Unter Peter I. (1689–1725) war nicht nur eine beträchtliche Zunahme der Zahl der in Russland lebenden Ausländer lutherischen Bekenntnisses zu verzeichnen, es änderte sich auch der Status der evangelisch-lutherischen Kirche. Das Manifest vom 16. April 1702 verkündete völlige Konfessionsfreiheit. Infolge der Reformen Peters I. spielten die Protestanten eine immer sichtbarere Rolle in der russischen Wissenschaft und Kultur. Unter Peter I. wurden zahlreiche neue lutherische Kirchen in Russland gebaut. Allein in Moskau wurden drei neue steinerne Kirchen errichtet (eine davon auf persönliche Kosten Peters I. 1685 in der Deutschen Vorstadt) und in Voronež zwei. In St. Petersburg gab es 1725  bereits fünf evangelische Gemeinden, die Gemeinde in Kronstadt nicht mitgerechnet. Peter I. unternahm auch einen ersten Versuch, die evangelisch-lutherische Kirche unter eine einheitliche Führung zu stellen und offiziell aus der Masse der Protestanten in Russland herauszuheben, indem er 1711 den Pastor der Moskauer Peter- und Paulkirche B. Vagetius zum Superintendenten aller lutherischen Gemeinden in Russland ernannte. Aber das von Vagetius in den Jahren 1711–1717 ausgearbeitete „Rechte Statut des kirchlichen lutherischen Glaubens“ wurde nicht umgesetzt und nach seinem Tod im Jahr 1724 kein Nachfolger berufen.

Nach dem Ende des Nordischen Kriegs (1700–1721) fielen durch den Friedensvertrag von Nystad die von Protestanten bevölkerten Gebiete Ingermanland, Livland sowie ein Teil Kareliens an Russland. Unter dem Einfluss des den Lutheranern gewogenen Peter I. gab  die 1721 als höchstes Organ der Orthodoxen Kirche gegründete Heilige Synode einen Erlass aus, der die Eheschließung von Orthodoxen mit Personen anderer christlicher Konfessionen ohne Übertritt letzterer zur Orthodoxie erlaubte, sofern die Kinder im orthodoxen Glauben getauft und erzogen wurden. 1718 wurde an zur Orthodoxie übertretenden Lutheranern nur das Ritual der Firmung ohne erneute Taufe vollzogen. Die Synode wurde zum Oberverwalter der lutherischen Gemeinden in Russland und bekam 1723 den Auftrag, die Katechismen Luthers und Calvins ins Russische übersetzen und  drucken zu lassen. Zarin Anna Ivanovna (1730–1740) nahm lebhaften Anteil am Leben der lutherischen Kirchen und unterstützte den Bau einer lutherischen Kirche in St. Petersburg, die ihr zu Ehren den Namen St. Anna erhielt. Von 1734 an war dem Justizkollegium für livländische, estländische und finnländische Angelegenheiten aufgetragen, die Angelegenheiten der  protestantischen Andersgläubigen zu leiten. 1735 erklärte Zarin Anna, dass Lutheraner „in unserem ganzen Land frei ihren Glauben bekennen [und] ihren Gottesdienst nach den Grundprinzipien ihres Glaubens abhalten dürfen“.

Die Zeit der Palastrevolutionen (1725–1761) bot günstige Rahmenbesingungen für die weitere Entwicklung des Protestantismus und den Bau lutherischer Kirchen in Russland. In dieser Zeit wurden in vielen Teilen Russlands einschließlich Sibiriens neue evangelisch-lutherische Gemeinden gegründet, etwa in Omsk (1750), Tomsk (1751), Irkutsk und Tobol' (1768). In Ekaterinburg (1733), Perm' (1733), Smolensk (1740), Orenburg (1767) und in Kiev (1767) wurden neue Gemeinden eingerichtet. Unter Elizaveta Petrovna (1741–1761) wurde in St. Petersburg der Konsistorialrat gegründet (1743). 1758 und 1762 wurde den Lutheranern durch Erlasse gestattet, bei ihren Kirchen Friedhöfe zu haben.

Unter Ekaterina II. (1762–1796) erreichte der Prozess  der Gründung evangelisch-lutherischer Gemeinden mit insgesamt 30 neuen Gemeinden in 28 Jahren seinen Höhepunkt. Bald nach der Thronbesteigung gab Ekaterina II.den Erlass vom 4. Dezember 1762 und das bekannte Einladungsmanifest vom 22. Juli 1763 heraus, in denen sie Ausländer zur Ansiedlung nach Russland einlud und ihnen eine Reihe von Privilegien auch im religiösen Bereich versprach. Die „freie Glaubensausübung“ und „staatliche Hilfe beim Kirchenbau“ waren zentrale Punkte des Manifests. 

Die aus verschiedenen Ländern Deutschlands sowie aus der Schweiz und Elsass-Lothringen kommenden künftigen Kolonisten waren zu 75% Protestanten, die übrigen Katholiken. Lutheraner gründeten Kolonien im Wolgagebiet, in den Gouvernements St. Petersburg, Černigov, Voronež, Cherson, Ekaterinoslav, Poltava, Taurien und Novgorod sowie im Gouvernement Livland und in Bessarabien. Innerhalb weniger Jahre ließen sich dank dem Erlass Ekaterinas II. allein im Wolgagebiet über 20.000 Anhänger des lutherischen und reformierten Glaubens in 75 evangelisch-lutherischen Kolonien (1766) nieder.

Den inneren Aufbau der Kirchengemeinden und die Gottesdienstordnung legten die Gemeinden selbständig fest, da die Kirchenverwaltung noch nicht durch Gesetze geregelt war. In der ersten Zeit hatten die Gemeinden keine straffe Kirchenorganisation. Formal waren die Pastoren dem Justizkollegium für Geistliche Angelegenheiten unterstellt, das deren Tätigkeit aber angesichts der weiten Entfernung zu den Gemeinden nicht kontrollieren konnte. Deshalb wies das Justizkollegium die Kirchengemeinden per Erlass an, sich nach dem schwedischen Kirchengesetz von 1686 zu richten, auch wenn dies nicht an die örtlichen Gegebenheiten angepasst war. Eine einheitliche Führung der evangelisch-lutherischen Kirche gab es ebenfalls noch nicht. Zwar ordnete Ekaterina 1785 an, in allen Gouvernementszentren lutherische Konsistorien einzurichten, doch blieb diese Entscheidung wie so viele andere Gesetze jener Zeit auf dem Papier. 1786 arbeitete  Geheimrat Vietinghoff das Projekt der Gründung eines „Hauptkonsitoriums des lutherischen und reformierten Bekenntnisses“ aus, das aber nicht umgesetzt wurde.

Angesichts fehlender die Gottesdienstordnung und die Führung der Evangelisch-lutherischen Kirche regelnder gesetzlicher Vorgaben kam es vor Ort zu erheblichen Unterschieden und sogar Willkür. Deshalb wurde die Gottesdienstordnung 1805 durch die sogenannte „Liturgische Verordnung” gesetzlich geregelt. 1810 wies Aleksandr I. das Justizkollegium an, Maßnahmen zum Schutz der „Reinheit des lutherischen Glaubens“ zu ergreifen, in den Ideen des Pietismus vorgedrungen waren, und die Gründe für verschiedene Neuerungen der Durchführung der lutherischen Liturgie zu klären.

Anfang des 19. Jahrhunderts änderte sich die Subordination der lutherischen Kirche. Per Erlass vom 25. Juli 1810 wurde die 1804 gegründete Superintendenz des Petersburger Gouvernements zur Hauptverwaltung für geistliche Angelegenheiten der (verschiedenen) ausländischen Konfessionen restrukturiert, die wiederum 1817 in das neugegründete Ministerium für geistliche Angelegenheiten und Volksbildung überging, das in der Folge mehrfach umbenannt wurde. 1817 begann die Ausarbeitung eines Gesetzes über die „Verwaltung der geistlichen Angelegenheiten der Christen protestantischer Konfession“. 1819 wurden die Aufgaben des Justizkollegiums für Geistliche Angelegenheiten, das seine Aufgaben nur bedingt erfüllte und wegen faktischer Untätigkeit in schlechtem Ruf stand, einer neuen Struktur übertragen – dem von Graf P.I. Tiesenhausen geführten evangelisch-lutherischen Generalkonsistorium.

Zu dieser Zeit gab es im Russischen Reich das Livländische Hauptkonsitorium (dem die Konsistorialbezirke Dorpat und Pernau unterstanden), die Konsistorien Kurland und  Wilna, die Provinzialkonsitorien Estland und Ösel, die Stadtkonsistorien Riga, Narva und Reval sowie den Petersburger Konsistorialrat und die Litauische Evangelisch-reformierte Synode. 1819 sollten per Erlass des Obersten Senats Konsitorialbezirke in Saratov und Odessa gegründet werden. In der Realität wurde ersterer allerdings erst 1822 und zweiterer gar nicht gegründet. Der Saratover Konsistorialbezirk bestand formal 14 Jahre unter der Führung von Bischof I.A. Fessler und wurde 1834 in den Moskauer Konsistorialbezirk umgewandelt. 

Anlässlich des 300. Jahrestags der Reformation (1817) gaben viele europäische Monarchen Erlasse über die Vereinigung des zersplitterten Protestantismus aus, die den Gebrauch der Bezeichnungen „lutherisch“ und „reformiert“ im offiziellen Schriftverkehr verboten und durch die allgemeine Bezeichnung „evangelische Kirche“ ersetzten. Ähnliche Maßnahmen wurden auch in Russland ergriffen. 1817 arbeite K.A. Lieven das Projekt eines Bundes der lutherischen und der reformierten Konfession aus, das von Zar Aleksandr I. durch Erlass vom 30. November 1817 bestätigt wurde (ein erstes Projekt einer Vereinigung von Lutheranern und Reformierten war bereits unter Ekaterina II. geprüft worden). Ursprünglich wurde die Vereinigung nur in Archangel'sk umgesetzt, wo sich Lutheraner und Reformierte in der St. Katharinenkirche zu einer gemeinsamen Gemeinde zusammenschlossen. Ungeachtet aller Proteste von Seiten lutherischer und reformierter Theologen wurden Lutheraner und Reformierte im gesamten Russischen Reich am 20. Juli 1819 per Erlass des Zaren Aleksandr I. in der einheitlichen Evangelisch-lutherischen Kirche zusammengefasst. Höchste Führungsorgane beider Konfessionen wurden das Generalkonsistorium und das Departement für geistliche Angelegenheiten der ausländischen Bekenntnisse. Angesichts des Widerstands von Seiten der Ostseeadligen und der Geistlichkeit wurde der Erlass nicht in vollem Umfang umgesetzt und die lutherischen und reformierten Kirchen blieben de facto voneinander unabhängig. (Eine erste Erfahrung der Umsetzung des Erlasses war die 1820 vom Superintendenten des Saratover Konsistorialbezirks I.A. Fessler vollzogene Vereinigung der lutherischen und reformierten Gemeinden in Katharinenstadt.

Aufgrund des Erlasses vom 20. Juli 1819 wurde in der evangelischen Kirche Russlands das Amt des Bischofs eingeführt, der über die gleichen Rechte wie die Bischöfe in Schweden, Preußen und Dänemark verfügte. Erster Bischof des Generalkonsistoriums, der vom Zaren ernannt wurde und die gesamte evangelisch-lutherische Kirche in Russland und deren Geistlichkeit führen sollte, wurde Zacharias Cygnaeus. 1829 wurden seine Vollmachten auf den St. Petersburger Konsistorialbezirk beschränkt. Cygnaeus arbeitete das Projekt eines Kirchenstatuts aus, das allerdings nicht von den Konsistorien gebilligt wurde. Als Mittler zwischen den Konsistorien und den Pastoren wurden 1823 im Wolgagebiet auf Vorschlag von Bischof Fessler Pröpste eingesetzt, die an die Stelle des abgeschafften Amts der Senioren treten sollten.

Angesichts der dringenden Notwendigkeit, den Rechtsstatus der protestantischen Kirche in Russland zu klären, gründete Nikolaj I. (1825–1855) per Erlass vom 22. Mai 1828 das von Senator P.I. Tiesenhausen geführte Komitee zur Ausarbeitung eines Allgemeinen Statuts der Evangelischen Kirche, dessen erstes Arbeitsergebnis die Ausarbeitung einer unter Beteiligung von Professoren der Theologischen Fakultät der Universität Dorpat verfassten Liturgischen Agenda war, die auf lokalen Agenden sowie der Preußischen Agenda von 1815 und 1828 basierte. Unter Beteiligung des Leiters des Departements für geistliche Angelegenheiten der ausländischen Konfessionen Graf K. von Lieven wurde 1828 das Projekt eines „Statuts der evangelisch-lutherischen Kirche Russlands“ entworfen, das nach seiner Bestätigung und Unterzeichnung durch den Zaren am 28. Dezember 1832 in Kraft trat. Das Justizkollegium wurde aufgelöst und durch das Generalkonsistorium ersetzt, die Führung der kirchlichen Angelegenheiten der ausländischen Konfessionen ging aus dem Zuständigkeitsbereich des Ministeriums für Volksbildung auf das Innenministerium über, bei dem ein eigenes Departement für Geistliche Angelegenheiten der ausländischen Konfessionen gegründet wurde. Zusammen mit dem Statut unterzeichnete Nikolaj I. die „Instruktion für geistliche Personen und Organe der Evangelisch-lutherischen Kirche“. Bereits 1821 war ein Gesetz erschienen, das die Aufsetzung und Bestätigung der „Einladungsurkunden“ (Vokation) der lutherischen Pastoren in die Gemeinden regelte. Bis zur Annahme der Verfassung der Evangelisch-lutherischen Kirche im Jahr 1924 wurde die Tätigkeit der Evangelisch-lutherischen Kirche im Wesentlichen durch die genannten Gesetzgebungsakte geregelt. 

Abgeschlossen wurde die Zentralisierung der Evangelisch-lutherischen Kirchenführung durch das Statut vom 28. Dezember 1832, das sich am Allgemeinen Schwedischen Kirchenstatut, am Liturgischen Statut von 1805 und am Preußischen Kirchenstatut von 1828 orientierte und allgemeine den Protestantismus in Russland betreffende Rechtsvorschriften enthielt sowie eine einheitliche Ordnung der Verwaltung der Gemeinden und  der Berufung der obersten Kirchenführung festlegte. Das Statut der Evangelisch-lutherischen Kirche umfasste 771 Artikel einschließlich eines zweiten Abschnitts, der Sonderregelungen für einzelne regionale Gemeinschaften enthielt. Das Statut schrieb die Grundlagen der evangelisch-lutherischen Glaubenslehre fest, verbot streng jegliche  Missionstätigkeit, regelte Gottesdienstordnung und Sakramente, Ehe und Familie betreffende Normen sowie die Rechte und Pflichten der Pastoren, Küster und Organisten. Abschnitt zwei des Statuts enthielt Sonderregelungen für die evangelisch-reformierten Gesellschaften in St. Petersburg und Moskau, die evangelische Diözese Archangel'sk, die deutschen Kolonisten in der Region Transkaukasien, die evangelischen Brüdergemeinden des Augsburger Bekenntnisses in Sarepta und in den Baltischen Gouvernements, die schottischen Kolonisten in Karras, die Basler Kolonisten in Šuša sowie die Mennoniten.

Mit der Verabschiedung des Statuts erhielt die evangelisch-lutherische Kirche eine endgültige Rechtsgrundlage, auf der sie ihre weitere Existenz aufbauen konnte. Durch das Statut wurde die Sonderstellung der lutherischen und reformierten Kirchen unter den nicht orthodoxen Konfessionen in Russland gefestigt. Wie die russisch-orthodoxe Kirche bekam auch das Luthertum in Russland den Status einer offiziellen Religion. Der organisatorische Aufbau der evangelisch-lutherischen Kirche nahm eine geordnete Form an. Durch das Statut wurde der Prozess der Zusammenlegung und Zentralisierung der protestantischen Kirchen in Russland zum Abschluss gebracht und eine feste Ordnung der Führung der Kirchengeschäfte etabliert.

Von 1832 an wurde die Evangelisch-lutherische Kirche vom Generalkonsistorium in St. Petersburg geführt, an dessen Spitze der Superintendent und ein weltlicher Präsident standen. Präsidenten des Generalkonsistoriums waren Graf P.I. Tiesenhausen (1833–1845), Baron E.F. Meyendorff (1845–1879), F.K. Girs (1888–1891), Baron A.A. Üxküll von Gyllenband  (1891–1896), E.V. Scholz (1897–1913) und Baron Ju.A. Üxküll von Gyllenband (1914–1917). Vizepräsidenten waren I. Volborth (1832–1840), F. von Paffler (1840–56), K. Ulmann (1856–1868), Ju. Richter (1868–1892) und K. Freifeld (1892–1918).

Mitte des 19. Jahrhunderts bestanden auf dem Gebiet des Russischen Reiches die acht Konsistorialbezirke St. Petersburg, Livland, Estland, Kurland, Moskau, Ösel, Riga, und Reval.  Einzelne lutherische Gemeinden waren in Diözesen, Diözesen in Propsteien und  Propsteien in Konsistorialbezirken zusammengeschlossen, von denen es in Russland (ohne das Baltikum) zwei gab – Petersburg (vereinigte 20 Gouvernements) und Moskau (18 Gouvernements, die Regionen Kaukausus und Turkestan, sowie die Diözesen der Gouvernements und Gebiete Sibiriens).

Dem evangelischen Generalkonsistorium oblag die Leitung der Evangelisch-lutherischen Kirche: Es berief und entließ Pastoren und Pröpste, prüfte Gerichtsfälle, kontrollierte die Einhaltung der Gottesdienstordnung in den Gemeinden usw.

Höchstes Organ der Kirchenführung war die Generalsynode, der die Generalsuperintendenten der Konsistorialbezirke, die Pröpste, Delegierte der Provinzsynoden sowie vom Zar oder der Regierung berufene Personen angehörten. Die  höchste Konsistorialführung war mit der Entscheidung innerkirchlicher Angelegenheiten  befasst. 

1859 wurde mit Genehmigung Zar Aleksandrs II. die karitativ tätige „Solidarkasse der evangelisch-lutherischen Diözesen in Russland“ gegründet, die russischen Lutheranern  in schwierigen Zeiten von Dürre, Missernten, Hunger und Krieg erhebliche materielle Hilfe leistete und eine große Rolle bei der Unterstützung der evangelischen Gemeinden spielte.  Im ganzen Land unterhielt die Evangelisch-lutherische Kirche Dutzende Wohltätigkeitsorganisationen: evangelische Krankenhäuser, Waisenhäuser, Armenkassen, Fürsorgeeinrichtungen für arme Frauen und Kinder usw.   

Lutherische Pastoren leisteten einen erheblichen Beitrag zur Entwicklung der Geisteskultur des russischen und des deutschen Volkes. Viele Geistliche waren als Schriftsteller, Dichter, Übersetzer oder Ärzte aktiv. Der Verfasser der ersten russischen und lettischen Bibelübersetzung und Gründer des ersten Gymnasiums war Pastor E. Glück (1654–1705). Das erste Theater in Russland wurde 1672 von Pastor J. Gregory (1631–1675), die erste Versicherungsgesellschaft von Pastor Grot (1733–1799) gegründet. Der Übersetzer des „Igorlieds“  war Pastor K. Sederholm (1789–1867). Bischof H. Dieckhoff (1833–1911) gründete die erste Taubstummenschule (1860) und die erste Schule für blinde Kinder (1882). Die ersten russischen Lehranstalten für die Kinder der deutschen Kolonisten des Wolgagebiets wurden von den Pastoren K. Conrady (1794–1857) und K. Wahlberg (1794–1877) eröffnet. Viele Pastoren hinterließen theologische und historische, literarische und lyrische Werke: G. Bonwetsch, G. Dalton, F Dsirne, J. Cattaneo, A. Malmgren, T. Meyer, O. Pingoud, J. Stach, J. Erbes und viele weitere.

Prägenden Einfluss auf die Entwicklung des Geisteslebens der Russlanddeutschen hatten auch die Bibelgesellschaft (1812–1826), zu deren Direktoren der Vizepräsident des Petersburger Konsistoriums T. Rheinbott gehörte, und die Protestantische Bibelgesellschaft, deren Statut 1831 bestätigt wurde. Und auch in der Führung des Landes waren Angehörige des lutherischen Konfession überproportional stark vertreten: 1853 waren 16% der Mitglieder des Staatsrat (neun von 55), 11% der Mitglieder des Senats (zwölf von 113), 11% des Ministerkomitees (zwei von 18) und 19%  der Gouverneure (neun von 48) Lutheraner.

Die Evangelisch-lutherische Kirche in Russland vereinte die lutherischen und reformierten Gemeinden des Landes. Unabhängig von der Führung der Evangelisch-lutherischen Kirche in Russland war die Separatistische Kirche Transkaukasiens, die eine eigene Kirchenführung mit einem Oberpastor an der Spitze und ein eigenes von Pastor A.G. Dittrich ausgearbeites Kirchenstatut hatte. Die schwäbischen Separatisten Transkaukasiens teilten die Hauptdogmen des Luthertums, hatten aber eine strengere Lehre der Buße. In den Weichselgouvernements (Generalgouvernement Warschau) bestanden Gemeinden der Evangelisch-Augsburgischen Kirche, die nur das Augsburger Bekenntnis anerkannten. In Sarepta (in der Nähe von Carycyn, dem heutigen Wolgograd) und in den baltischen Gouvernements bestanden Gemeinden der Herrnhuter. 1894 schloss sich die Gemeinde der Herrnhuter in Sarepta der Evangelisch-lutherischen Kirche an.  

1830 und 1834 gab der Regierungssenat die reformierte Kirche bzw. die Herrnhuter Brüdergemeinden betreffende Verordnungen heraus. Am 19. Mai 1834 wurden durch Erlass des Senats bei den lutherischen Konsistorien Moskau, St. Petersburg, Riga und Mitau für die geistlichen Angelegenheiten der evangelisch-reformierten Kirche zuständige reformierte Sonderräte eingerichtet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in Russland sieben große reformierte Diözesen: in den Städten Moskau, St. Petersburg, Archangel'sk und Odessa, In den Kolonien Schabo (Bessarabien), Neudorf (Gouvernement Odessa) und in der vereinten Diözese Worms-Johannesthal-Waterloo-Rorbach. 1914 gab es in Russland (ohne Wolgagebiet) 42 reformierte Gemeinden.

Anfang des 20. Jahrhunderts war der Prozess des Aufbaus der einheitlichen Evangelisch-lutherischen Kirche abgeschlossen. Angesichts der stetig wachsenden Zahl der Kirchengemeinden und Gemeindemitglieder (in den Jahren 1862–1917 stieg die Zahl der Lutheraner um das 2,8-fache) wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert in den zwei Konsistorialbezirken Russlands 70 neue lutherische Diözesen gegründet. Insgesamt hatte die evangelisch-lutherische Kirche 1885 im Russischen Reich (ohne Finnland und Transkaukasien) 2.6 Millionen Gemeindemitglieder. Überall wurden neue Kirchen gebaut und neue Kirchenschulen und kirchliche Lehranstalten eröffnet. 

1917 bestand die Evangelisch-lutherische Kirche in Russland aus fünf Konsistorialbezirken: zwei befanden sich in Russland (Petersburg und Moskau), drei in den Baltischen Gouvernements (Estland, Kurland und Livland) Zum Petersburger Konsistorialbezirk gehörten die folgenden Städte und Gouvernements: Petersburg, Novgorod, Jaroslavl', Smolensk, Černigov, Vologda, Kostroma, Pskov, Kiev, Poltava, Cherson, Ekaterinoslav sowie die Gebiete Taurien, Bessarabien, Wolhynien, Podolien, das Gebiet der Donkosaken und ein Teil Kuban's. Zum Moskauer Konsistorialbezirk gehörten Tula, Vladimir, Rjazan', Kaluga, Nižnij Novgorod, Saratov, Samara, Simbirsk, Kazan', Astrachan', Voronež, Kursk, Orel, Vjatka, Char'kov, Penza, Tver', Perm', Orenburg, Ufa sowie der Kaukasus, Turkestan und Sibirien. 

1917 lebten im Russischen Reich 3.674.000 Lutheraner, davon 2.425.000 in den Baltischen Gouvernements. Die fünf Konsistorialbezirke bestanden aus 539 Kirchendözesen, von denen sich 202 auf russischem Gebiet befanden. Es gab 1.828 evangelisch-lutherische Kirchen und Bethäuser, von denen 1.173 in Russland und 655 im Baltikum waren. Bei den Kirchen handelte es sich größtenteils um Steinbauten, über die Hälfte aller Kirchen befand sich auf dem Land. Hinsichtlich ihrer ethnischen Zugehörigkeit waren 1917 72,5% der russischen Lutheraner Deutsche, 11,8% Finnen, 9,5% Esten, 5,3% Letten, der Rest verteilte sich auf Schweden, Litauer, Polen, Livländer, Armenier u.a. Bis ins 19. Jahrhundert entwickelten sich der deutsche und der skandinavische Zweig des Luthertums unabhängig voreinander. Bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es mehr skandinavische als deutsche Lutheraner, auch wenn ihr Einfluss auf Staat und Gesellschaft hinter dem der Deutschen deutlich zurückblieb. 1914 gab es 198 lutherische Prediger (114 Pastoren und fünf Kandidaten im St. Petersburger, 76 Pastoren und drei Kandidaten im Moskauer Konsistorialbezirk). 1918 lag die Zahl der ordinierten Pastoren bei 209. An der Spitze des Generalkonsistoriums stand 1917 Generalsuperintendent Bischof C. Freifeldt, das Petersburger Konsitorium leitete dessen geistlicher Vizepäsident A. Malmgren, den Moskauer Konsistorialbezirk P. von Willigerode. Die größten Diözesen der Evangelisch-lutherischen Kirche waren 1905 die Diözesen der Wolgakolonien Frank (28.039 Personen), Norka (23.179 Pers.), Bettinger (19.762 Pers.) Neb/ Rezanovka (19.046 Pers.) sowie die ukrainischen Diözesen Rožišče (18.000 Pers.) und Heimtal (17.949 Pers.), die größten städtischen Diözesen waren St. Peter und Paul in Moskau (17.000 Pers.) und Saratov (16.400 Pers.). Die ältesten Gemeinden waren St. Michael in Moskau (1576), Nižnij Novgorod (1580), St. Peter und Paul in Moskau (1626), St. Johann in Narva (1628), Archangel'sk (1686) und St. Peter in St. Petersburg. (1704).

Aufgrund der in der Gesetzesammlung (1896, Bd. 11, Artikel 1, 2) verkündeten  Gesetzesvorschriften genossen Angehörige des protestantischen Bekenntnisses völlige Freiheit des Glaubens und der Abhaltung von Gottesdiensten. Außerdem legte die Gesetzesammlung des Russischen Reiches die Pflichten der Pastoren und Küster fest und  schrieb die lutherische Gottesdienstordnung sowie den inneren Aufbau der Kirche und Aufbau und Führung der protestantischen Gemeinden vor. Die lutherischen Pastoren wurden an den theologischen Fakultäten der Universitäten Dorpat (Jur'ev/ Tartu) und Helsingfors (Helsinki/ Aleksandr-Universität) ausgebildet. Zentrale Presseorgane der Kirche waren das 1816-1819 in Riga erscheinende Journal „Magasin für protestantische Prediger im Russischen Reiche”, die 1838-1914 in Riga und Dorpat erscheinenden “Mitteilungen und Nachrichten für die evangelische Geistlichkeit Russlands” und weitere regionale Publikationen.

Anfang des 20. Jahrhunderts rief die Evangelisch-lutherische Kirche nach der Veröffentlichung des Oktobermanifests („Über die Verbesserung der staatlichen Ordnung“, 17. Oktober 1905), das den Russen neben den bürgerlichen Freiheiten auch die Gewissensfreiheit bescherte, die Diözesen zur Erörterung der Frage einer Reform des Systems der Kirchenführung auf und forderte die Pastoren auf, sich an der Ausarbeitung eines Projekts der Umgestaltung der Konsistorialbezirke zu beteiligen.

In den Jahren des 1. Weltkriegs löste die Verabschiedung einer Reihe die deutsche Bevölkerung Russlands diskriminierender Gesetze eine antilutherische Kampagne aus. 1914 wurden deutschsprachige Publikationen und Vereine geschlossen und in vielen Gebieten des Landes der Gebrauch der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit unterbunden. In vielen lutherischen Kirchen bzw. Diözesen wurde der Gebrauch der deutschen Sprache in der Predigt und die Durchführung von Kasualien (Taufe, Konfirmation, Trauung, Begräbnisfeier) verboten. Über das Land rollte eine Welle spontaner und organisierter antideutscher Pogrome, bei denen auch Todesopfer zu beklagen waren. Am 30. Mai 1915 wurden bei einem dieser Pogrome in Moskau fünf Mitglieder der evangelisch-lutherischen Petri- und Pauligemeinde getötet und 40 verletzt. Insgesamt 84 lutherische Geistliche wurden zu Opfern der antideutschen Kampagnen bzw. der repressiven Gesetze: 30 von ihnen wurde nach Sibirien verbannt, drei dem militärischen Feldgericht übergeben, zwei verurteilt, die übrigen ausgewiesen oder gezwungen, ihren Wohnort und ihre Gemeinde zu verlassen.

Den Sturz des Zarenregimes im Zuge der Februarrevolution von 1917 sah die Evangelisch-lutherische Kirche als Möglichkeit, alle Beschränkungen aufzuheben und die Verfolgung der lutherischen Pastoren zu beenden. Am 11. bzw. 20. März 1917 hob die Provisorische Regierung die die persönlichen und bürgerlichen Rechte der Deutschen beschränkenden Gesetze auf und erteilte die Genehmigung, Ende 1917 eine Generalsynode der Evangelisch-lutherischen Kirche durchzuführen. Am 5. August 1917 wurde die Zuständigkeit für die Angelegenheiten der andersgläubigen Konfessionen aus dem  Departement für geistliche Angelegenheiten der ausländischen Konfessionen an das Ministeriums für Konfessionen übertragen. Die Provisorische Regierung verkündete die Aufhebung aller nationalen, konfessionellen und ständischen Beschränkungen („Aufruf an die Bürger“ vom 7. März 1917, „Verordnung über die Gewissensfreiheit“ vom 14. Juli 1917), kam aber über die Verkündung der Religionsfreiheit nicht mehr hinaus.

Nach der Oktoberrevolution von 1917 änderte sich die Lage der Kirche fundamental. Im Zuge der antireligiösen Politik der folgenden 20 Jahre wurde die evangelisch-lutherische Kirche als Organisationsstruktur liquidiert. Durch die Konfiszierung der Bankguthaben verlor die Kirche sämtliche finanziellen Ressourcen, durch die Übergabe der Lehranstalten an das Volkskommissariat für Aufklärung (Dekret vom 11. Dezember 1917) über Tausend kirchliche Gemeindeschulen. Aufgrund der Dekrete vom 16. und 18. Dezember 1917 durfte sie keine Familienstandsregister mehr haben. Ungeachtet einiger positiver Aspekte (Erklärung der völligen Gewissensfreiheit, Gleichheit aller Religionen und Abschaffung konfessioneller Beschränkungen) war das Dekret des Rats der Volkskommissare über die Trennung von Kirche und Staat bzw. von Schule und Kirche vom 23. Januar 1918 für die Kirche kaum zu akzeptieren. Zusätzlich verschärft wurde die Situation dadurch, dass die Umsetzung des Dekrets in die schwere Zeit des Bürgerkriegs und des ökonomischen Niedergangs fiel und es keine speziellen für seine Umsetzung zuständigen staatlichen Organe gab. Wie alle anderen religiösen Organisationen auch verlor die evangelisch-lutherische Kirche ihr Eigentumsrecht und die Rechte als juristische Person. Die lutherischen Kirchen und ihr Besitz fielen an den Staat. Die Kirchengemeinden konnten zwar Nutzungsverträge für ihre Kirchengebäude abschließen, durften diese aber nicht mehr als Eigentum besitzen. Im Januar 1918 wurde das Evangelisch-lutherische Generalkonsistorium verpflichtet, den staatlichen Organen Auskunft über die Zahl der Kirchengebäude sowie über Zahl und ethnische Zugehörigkeit ihrer Gemeindemitglieder zu geben. Im April 1918 wurden alle lutheischen Kirchenräte des Landes verpflichtet, Aufstellungen des Kirchenbesitzes an die örtlichen Kommissionen für die Trennung von Kirche und Staat zu übergeben. Als diese Anordnung nicht innerhalb der gesetzten Frist erfüllt wurde, wurde den Diözesen verboten, die Dokumentation in der Muttersprache zu führen. 1919 wurde den lutherischen Pastoren des Tragen des Talars verboten. Das Leben der Kirchenführung und der Gemeinden wurde von Seiten der Verwaltungsbehörden streng reglementiert.

In den ersten Monaten nach der Revolution stellte sich die Führung der Evangelisch-lutherischen Kirche nicht offen gegen die Politik der neuen Machthaber. Beeinflusst wurde die Haltung der Kirche durch den Verlauf des Krieges gegen Deutschland, den langen Prozess der Unterzeichnung des Vertrags von Brest-Litovsk und die ausländische Intervention auf dem Gebiet Russlands. In erheblichem Maße war das Stillhalten der Kirche auch durch den Umstand bedingt, dass sie in den ersten Jahren der Sowjetmacht weit weniger unter den Maßnahmen der neuen Machthaber zu leiden hatte als etwa die orthodoxe Kirche. Nachdem das Volkskommissariat für Justiz in einer Instruktion vom 30. August 1918  explizit darauf hingeweisen hatte, dass auch die protestantische Kirche unter die Geltung des Dekrets über die Trennung von Kirche und Staat fiel, forderte die Führung der Evangelisch-lutherischen Kirche in einer Reihe von an den Rat der Volkskommissare gerichteten Gesuchen, die Umsetzung des Dekrets gegenüber der Evangelisch-lutherischen Kirche zu stoppen. In Moskau und Petrograd gründete die Führung der Evangelisch-lutherischen Kirche Komitees zum Schutz des Kirchenbesitzes. Unter Verweis auf den Friedensvertrag von Brest-Litovsk und die dort enthaltene Klausel, dass Deutschland seine auf dem Gebiet Russlands lebenden Bürger unter seinen Schutz stellte, versuchte die Evangelisch-lutherische Kirche, ihre Rechte zu verteidigen und jahrhundertealte Traditionen zu bewahren.

Anfang der 1920er Jahre sah sich die Kirche mit der Spaltung ihrer  Führungsstrukturen, der Isolierung der einzelnen Gemeinden und der Verdrängung aus der Fläche konfrontiert. Vor dem Hintergrund von Zerfall, Hunger, Krieg und Intervention ergriffen die Machthaber im Rahmen der Politik des „Kriegskommunismus“ eine Reihe von Maßnahmen, um die Rechte der Geistlichen zu beschneiden und deren materielle Lage und politischen Einfluss zu untergraben (Aberkennung des Wahlrechts, Verweigerung des Rechts auf Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei, in den Gewerkschaften oder in Wohnungsgenossenschaften, Verweigerung des Rechts auf Erhalt von Sozialversicherungsleistungen oder Pensionen, Aussiedlung aus dem Pfarrhaus usw.). 1918 emigrierten 30, 1919–1923 noch einmal 40 Pastoren aus Russland. Durch Emigration und Repressionen wurde die Zahl der Pastoren bis 1924 mehr als halbiert. Infolge der politischen Veränderungen, der antikirchlichen Gesetzgebung und erster Repressionen stellte das Generalkonsistorium 1918 seine Tätigkeit ein, kam es zur Konfrontation zwischen Moskauer und Leningrader Konsistorium, spalteten sich die Wolgadiözesen von der Evangelisch-lutherischen Kirche ab (1918–1924), forderten die sibirischen Diözesen eine Überprüfung der lutherischen Lehre usw. Vor diesem Hintergrund verabschiedeten die Vertreter der Moskauer Gemeinden 1920 unter dem Titel „Temporäre Bestimmungen über die Selbstverwaltung der evangelisch-lutherischen Gemeinden in Russland“ eine Verfassung,  die den organisatorischen Aufbau und eine einheitliche Führungsstruktur der Kirche festlegen sollte. Anstelle der Konsistorien wurden höchste Kirchenräte eingerichtet, an deren Spitze der von C. Freifeldt geführte bischöfliche Rat stehen sollte.

 Ungeachtet der schwierigen Rahmenbedingungen gehörte die Evangelisch-lutherische Kirche zur Zeit der Hungersnöte der 1920er Jahre zu den Organisatoren der Hilfleistungen. Der Superintendent des Moskauer Konsistoriums T. Meyer wurde von der Sowjetregierung offiziell als Mitarbeiter der „American Relief Administration“ (ARA), sein erster Assistent D. Moread als Leiter des Nationalen Lutherischen Rats (der eine Unterabteilung der ARA darstellte) anerkannt. Vor Ort waren viele lutherische Pastoren als Koordinatoren der ARA aktiv, verteilten die Spenden und leiteten die karitativen Kirchenkomitees der Gemeinden. Ungeachtet des großen Engagements der evangelisch-lutherischen und anderer Kirchen in der Hungerhilfe nahm der Staat die Hungerkrise zum Anlass, eine politische Kampagen zur Enteignung der Kirchengüter durchzuführen (Dekret des Allrussischen Zentralexekutivkomitees vom 23. Februar 1922), in deren Verlauf die lutherische Kirche einen großen Teil ihrer Mittel verlor.

Vom 21.–26. Juni 1924 fand die erste Generalsynode überhaupt in der Geschichte der Kirche statt, die die Verfassung (Statut) der Evangelisch-lutherischen Kirche verabschiedete und die folgenden Fragen diskutierte: Vereinigung von Gemeinden, Bischofswahlen, Bekenntnis der Evangelisch-lutherischen Kirche und Gründung von Seminaren zur Ausbildung neuer Geistlicher. Als höchstes Führungsorgan trat der Oberste Kirchenrat an die Stelle des Generalkonsistoriums, zu dessen Präsidenten T. Meyer gewählt wurde. Das Zentrum der Kirche wurde aus Petersburg nach Moskau verlegt. Der Evangelisch-lutherischen Kirche gehörten 184 in Propsteibezirke vereinte Diözesen an (die Bezirke Omsk und Slavgorod wurden 1925–1928, die Westsibirische und die Ostsibirische Kirchenführung 1929 angeschlossen).

1922 wurden in Petrograd Predigerkurse gegründet, auf deren Grundlage 1925 ein Predigerseminar zur Ausbildung der evangelisch-lutherischen Geistlichen eingerichtet wurde (1925–1934). Das von A.T. Meyer ausgearbeitete Projekt, ein Theologisches Seminar in Moskau zu gründen, um das lutherische Bekenntnis unter Angehörigen verschiedener Nationalitäten zu verbreiten, wurde von der Generalsynode der Evangelisch-lutherischen Kirche der UdSSR abgelehnt, die die Gründung des Seminars in Leningrad präferierte. Im April 1925 erteilten die Behörden die offizielle Genehmigung zur Gründung des Seminars, verboten allerdings den Gebrauch der Bezeichnung „Theologisches Seminar“. Der offizielle Name „Bibelkurse“ oder „Lehrerseminar“ wurde von der Kirchenführung nur selten verwendet. Am 15. September 1925 wurde das Seminar feierlich eröffnet. Direktor war Propst F. Wacker. 1925 wurden 24 Abiturienten (aus 60 Bewerbern) in das Seminar aufgenommen,1926 – 14. 1927 kam die Aufnahme eines dritten Jahrgangs angesichts fehlender finanzieller Ressourcen nicht zustande. Zugleich wurde die Ausbildungszeit angesichts des Mangels an Pastoren in den Gemeinden von vier auf drei Jahre verkürzt. Die Studenten wurden zur Durchführung von Gottesdiensten in den Leningrader lutherischen Gemeinden herangezogen. Im Januar 1930 wurden die Studenten aus der Stadt verwiesen. 1933 hatte das Seminar nur noch einen einzigen Dozenten (A. Malmgren), alle anderen waren repressiert oder entlassen. Im Januar 1933 studierten noch elf Studenten am Seminar, von denen sieben im gleichen Jahr auf der letzten Synode der Evangelisch-lutherischen Kirche ordiniert wurden. Im Sommer 1934 stellte das Seminar seine Tätigkeit ein. Insgesamt hatte es etwa 60 Pastoren ausgebildet, die nach ihrem Abschluss ein einjähriges Vikariat absolvierten, ordiniert und in die Gemeinden Russland entsandt wurden. Die überwiegende Mehrheit der Absolventen wurde repressiert. Allein von den 25 Absolventen der ersten beiden Jahrgänge wurden 22 verurteilt, davon vier zum Tod durch Erschießen.

Der Mangel an Geistlichen war einer der Gründe für die Spaltung der Evangelisch-lutherischen Kirche, von der sich die „Freie Evangelisch-lutherische und Reformierte Kirche kongregationaler Verfassung” (sogenannte “Lebendige Kirche”) abspaltete, die im Unterschied zur Evangelisch-lutherischen Kirche zur Zusammenarbeit mit der Sowjetmacht bereit war (vergleichbar mit der Erneuerungsbewegung der Russisch-Orthodoxen Kirche) und von den Sowjetorganen zur Destabilisierung der Evangelisch-lutherischen Kirche benutzt wurde. Bereits vor der Gründung der „Freien Evangelisch-lutherischen und Reformierten Kirche kongregationaler Verfassung” war die sogenannte “Lebendige Kirche” als oppositionelle Strömung innerhalb der Evangelisch-lutherischen Kirche aktiv (1919-27). Die Gründung einer eigenen Kirchenorganisation wurde von den an einer Schwächung der großen Konfessionen interessierten Sowjetbehörden initiiert. Verkündet wurde die  Gründung der „Freien Evangelisch-lutherischen und Reformierten Kirche kongregationaler Verfassung” auf der von J. Fritzler einberufenen  Generalsynode der „Lebendigen Kirche“, die am 19.–21. Juli 1927 im Dorf Fischer (Kanton Marxstadt/ ASSR der Wolgadeutschen) stattfand. Ihr auf der Kirchenverfassung der amerikanischen Kongregationalisten basierendes Statut (Anfang der 1920er Jahre hatte sich die Organisation der Kongregationalistengemeinden «Volga Relief Society» im Wolgagebiet aktiv an der Hungerhilfe beteiligt) proklamierte die völlige Bekenntnisfreiheit, das Prinzip der organisatorischen Autonomie jeder Gemeinde von der Zentralmacht (jede Gemeinde konnte selbständig ihren Pastor wählen) sowie die Möglichkeit, Laien ohne theologische Ausbildung predigen zu lassen.  Ansonsten hielt die Satzung im Wesentlichen an den Positionen der Evangelisch-lutherischen Kirche fest. Zur Zeit ihrer Blüte hatte die „Freie Evangelisch-lutherische und Reformierte Kirche kongregationaler Verfassung” sieben Gemeinden im Wolgagebiet, 22 in der Ukraine, elf in Baschkirien und jeweils 16 in Sibirien und Transkaukasien und vereinte etwa 100.000 Personen. Die Evangelisch-lutherische Kirche unternahm mehrfach Versuche, die Spaltung zu überwinden.  Bischof T. Meyer unternahm Reisen in die an der Wolga und in Sibirien gelegenen Gemeinden der „Freien Evangelisch-lutherischen und Reformierten Kirche kongregationaler Verfassung”, um deren Gemeindemitglieder zur Rückkehr in den Schoß der Evangelisch-lutherischen Kirche zu bewegen. Infolge der Intensivierung der antireligiösen Kampagnen hörte die „Freie Evangelisch-lutherische und Reformierte Kirche kongregationaler Verfassung” zu existieren auf.

Von 1925 an wurden in den Gemeinden des Landes die maschinengeschriebenen „Mitteilungen des evangelischen höchsten Kirchenrats in der UdSSR“ verbreitet, die  Anweisungen und Direktiven der Kirchenführung enthielten. In den Jahren 1927–30 war das Journal „Unsere Kirche“ Presseorgan der Kirche, von dem allerdings gerade einmal elf Ausgaben erschienen. 1928 fand die II. Synode der Evangelisch-lutherischen Kirche statt, auf der die Hauptaufgaben der Kirchentätigkeit abgesteckt werden sollten. Aber die Zeit Ende der 1920er – Anfang der 1930er Jahre war durch eine Verschärfung der Antikirchenpolitik und der antireligiösen Propaganda geprägt. So wurden die Aktivitäten der der Kirchen durch die Verordnung des Allrussischen Zentralexekutivkomitees und des Rats der Volkskommissare „Über religiöse Vereinigungen“ vom 8. April 1929 starkt eingeschränkt. Kirchenschließungen und Verhaftungen von Geistlichen nahmen Massencharakter an. Allein in der RSFSR wurden in den Jahren 1918–1931 652 lutherische Gotteshäuser geschlossen. 1931 waren noch 945 religiöse Gemeinden registriert. An einigen Orten trafen die Zwangsschließungen der Kirchen auf aktive Gegenwehr. Besonders heftig waren die Reaktionen in Marxstadt und Halbstadt, wo Tausende Gläubige gegen die Kirchenschließungen protestierten und die aktivsten Beteiligten repressiert wurden. Über das Land rollte eine Verhaftungswelle von Geistlichen. 1931 übergab der Volkskommissar für Äußere Angelegenheiten M.M. Litvinov auf Forderung des deutschen Außenministeriums der deutschen Seite eine Liste mit 32 in der UdSSR inhaftierten lutherischen Pastoren deutscher Herkunft. Allein im Jahr 1934 wurden 15 lutherische Pastoren verhaftet und verurteilt. Als Bischof A. Malmgren im Sommer 1936 ausreiste, gab es in der gesamten Sowjetunion noch elf Pastoren, die allesamt bereits im Folgejahr verhaftet wurden. In den ersten zwanzig Jahren der Sowjetmacht wurden von 350 lutherischen Pastoren über 130 verhaftet und repressiert. 15 wurden erschossen, 22 starben in Haft, über 100 emigrierten. Die letzten lutherischen Kirchen wurden 1938 geschlossen. Als organisierte Struktur hörte die Evangelisch-lutherische Kirche in der UdSSR zu existieren auf, die Kirchenorganisation war endgültig zerschlagen.

In den Nachkriegsjahren begann die Wiedergeburt der Kirche mit der gesetzlichen Anerkennung der Gemeinde in Akmolinsk (Celinograd, heute Astana), die 1957 unter der Führung von Pastor O. Bachmann offiziell registriert wurde. Zusammen mit diesem kümmerten sich mit Unterstützung ausländischer religiöser Organisationen auch die Pastoren A. Pfeiffer und I. Schlund um die lutherischen Gemeinden des Landes, von denen in Kazachstan und Sibirien, in der Ukraine und in Russland Dutzende illegal existierten. Wo es keinen Pastor gab, hielten einfache Gläubige die Gottesdienste ab. Die staatlichen Sowjetorgane registrierten zwar einzelne Gemeinden, waren aber nicht bereit, eine einheitliche Evangelisch-lutherische Kirche anzuerkennen. Erst 1980 wurde mit Hilfe des Lutherischen Weltbunds offiziell das Amt eines mit den Rechten eines Bischofs ausgestatteten Superintendenten (Ch. Kalnins) und 1988 das Amt eines Bischofs eingeführt. Von 1989 an wurden alljährlich Versammlungen der Pröpste einberufen. 1990 wurde ein provisorisches Konsistorium eingerichtet und es begann der Aufbau einer klaren Kirchenstruktur: Gemeinde – Bistum - Kirche. 1989 wurde unter Führung von Ch. Kalnins ein Theologisches Seminar, 1997 ein theologisches Priesterseminar in Novosaratovka bei St. Petersburg gegründet (unter der Führung des Rektors S. Reder).

1990 gab es in der UdSSR etwa 500 nicht registrierte lutherische Gemeinden. Nach der Verabschiedung des Gesetzes „Über die Freiheit der Konfessionen“ (25. Oktober 1990) und der Verkündung der Religionsfreiheit in Russland (Verfassung der RSFSR von 1993, Artikel 28) setzte in Russland ein stürmisches Wachstum der Aktivitäten der protestantischen Gemeinden ein.

1992 wurden zwei bischöfliche Visitoren ernannt – für Kazachstan (G. Ratke) und den europäischen Teil Russlands (S. Springer). 1990 bestätigte eine Versammlung der Pröpste in Celinograd das auf Grundlage des Kirchenstatuts von 1924 ausgearbeitete neue Statut, das im November 1992 vom bischöflichen Rat, dem Konsistorium und der Versammlung der Pröpste gebilligt und am 22. April im Justizministerium der Russischen Föderation registriert wurde. So wurde das Luthertum wurde erneut zur offiziellen Konfession. 1993–1994 fanden mehreren früheren Sowjetrepubliken, in denen Russlanddeutsche lebten, Gründungssynoden der regionalen Kirchen statt: im Mai 1993 in Kazachstan (Almaty), im Juni 1993 die Synode des europäischen Teils Russlands (Moskau), im Juli 1993 in Sibirien (Omsk), im November 1993 in Uzbekistan (Taschkent) und im April 1994 in Kirgisien (Bischkek). Die 1. Generalsynode (26.–29. September 1994, St. Petersburg) bestätigte das überarbeitete Kirchenstatut, nahm den Rücktritt Ch. Kalnins an und wählte Georg Kretschmar zum neuen Bischof. Die II. Generalsynode (25.–28. Mai 1998, St. Petersburg) verabschiedete eine neue Agenda als einheitliche Grundlage der Liturgie. Am 1. Januar 1995 waren beim Justizministerium der Russischen Föderation 121 lutherische Gemeinden offiziell registriert. 

1993 gab es in Russland vier offiziell registrierte (evangelisch-lutherische) religiöse Organisationen: die „Deutsche Evangelisch-lutherische Kirche“, die sich als Nachfolger der historischen Kirche verstand, die „Evangelisch-lutherische Kirche Ingrias (Ingermanland) auf dem Gebiet Russlands“, die zu diesem Zeitpunkt 20 Gemeinden vereinte, den „Bund der evangelisch-reformierten Kirchen Russlands“ und die von Pastor I. Baronas geführte „Einige Evangelisch-lutherische Kirche Russlands“ (28 Gemeinden), die 1996 der für ganz Russland einheitlichen Lutherischen Kirche beitrat. Infolge der politischen Umwälzungen in der UdSSR und dem Zerfall der Sowjetunion änderte die Deutsche Evangelisch-lutherische Kirche ihren Namen in „Evangelisch-lutherische Kirche in Russland und anderen Staaten“. Das Statut wurde vom Justizministerium der Russischen Föderation am 22. April 1993 bestätigt, das neue Statut 1998.

Seit 2009 vereinigen die Evangelisch-lutherische Kirche bzw. der Bund der Evangelisch-lutherischen Kirchen etwa 600 Gemeinden (davon 400 auf dem Gebiet der Russischen Föderation) und haben etwa 250.000 größtenteils deutschstämmige Mitglieder. Der Bund der Evangelisch-lutherischen Kirchen vereint eine Reihe regionaler Kirchen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion (Russland, Ukraine, Weißrussland, Kazachstan, Kirgisien, Uzbekistan und Georgien). Die Evangelisch-lutherischen Kirche wird vom Erzbischof geführt, den die Generalsynode als höchstes Organ der Evangelisch-lutherischen Kirche ohne Befristung der Amtszeit wählt. Erzbischöfe der Kirche (bis 1999 war die offizielle Bezeichnung Bischof gebräuchlich) waren Harald Kalnins (1989–1994), Georg Kretschmar (1994–2005), Edmund Ratz (2005–2009), August Krese (2009–2012) und Dietrich Brauer (seit 2012). Hauptpartner der Evangelisch-lutherischen Kirche sind die Vereinigten Evangelisch-lutherischen Kirchen Deutschlands.

Die Lutheraner sind die zahlenmäßig zweitgrößte protestantische Gemeinschaft. Ihre Mitgliederzahl in Russland wird unterschiedlichen Angaben zufolge auf 85-170.000 geschätzt. Insgesamt lebten Ende der  1990er Jahre in Russland und in den Staaten der GUS 265.000 Lutheraner. Nach Angaben für das Jahr 2000 hatte die Evangelisch-lutherische Kirche Russlands 70.000 Gemeindemitglieder, 5.000 Menschen waren Reformierte und weitere 15.000 Gemeindemitglieder der Kirche Ingrias.

Die skandinavische (finnisch-schwedische) Tradition bildet die zweite große Richtung im russischen Luthertum und wird durch die „Inkerin evankelis-luterilainen kirkko“ („Evangelisch-Lutherische Kirche des Ingermanlandes in Russland“) vertreten. Sie vereint vor allem lutherische Gemeinden im Umland St. Petersburgs, und in grenznahen Regionen in Karelien. Offizielle Sprachen der „Evangelisch-Lutherischen Kirche des Ingermanlandes in Russland“ sind Russisch und Finnisch, im Gottesdienste und bei kirchlichen Kasualien kann aber auch die deutsche Sprache verwendet werden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist eine Tendenz zum häufigeren Gebrauch der russischen Sprache zu beobachten. Die „Evangelisch-Lutherische Kirche des Ingermanlandes in Russland“ verfügt über ein theologisches Seminar in Keltuši. Ihre Tätigkeit wird durch das  „Reglement über die Kirche“ geregelt.

2006 wurde die Evangelisch-lutherische Kirche des Augsburger Bekenntnisses gegründet, die 2007 offiziell registriert wurde und sich als übernationale Kirche positioniert. Die Evangelisch-lutherische Kirche des Augsburger Bekenntnisses hatte 2017 40 offiziell registrierte Gemeinden.

Seit erscheint 1992 die Zeitschrift „Der Bote/ Vestnik“ als zweisprachiges Presseorgan der Evangelisch-lutherischen Kirche, seit 1995 „Unsere Kirche“, seit 2000  die Informationsbulletin „Ljuteranskie vesti“/ „Lutherische Nachrichten“ (seit 2011 unter dem Titel „Vesti ljuteranskich cerkvej“/ „Nachrichten der lutherischen Kirchen“), seit 2002 ist der Zeitschrift „Der Bote/ Vestnik“ als Digest für ausländische Leser die deutschsprachige Beilage „Bote Spezial“ beigelegt. 1995 wurde die karikative Stiftung „Wiedergeburt der Evangelisch-lutherischen Kirche“ gegründet.

In der Gegenwart steht die Evangelisch-lutherische Kirche vor einer ganzen Reihe von Problemen – Restaurierung und Restitution von Kirchengebäuden, Ausbildung des Pastorennachwuchses, Sorge für Gemeindemitglieder.

Die rechtliche Stellung der Evangelisch-lutherischen Kirche wird zum gegenwärtigen Zeitpunkt durch das Gesetz „Über die Freiheit des Gewissens und der religiösen Vereinigungen“ vom 19. September 1997 mit Änderungen und Ergänzungen geregelt. Die Kirche hält weiterhin an der deutschen Kirchentradition fest, ihre Gemeindemitglieder sind größtenteils Russlanddeutsche. Die Gottesdienste werden in russischer und deutscher Sprache abgehalten. In den letzten Jahren ist die Zahl der Lutheraner in Russland kontinuierlich gestiegen. 

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Autoren: Lizenberger O.A.

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