RU

neue
illustrierte elektronische

Wiedergeburt. Gesellschaftspolitische und kulturelle Aufklärungsgesellschaft der Russlanddeutschen (seit 1989)

Rubrik: Politische Geschichte

Die Gesellschaft „Wiedergeburt“ – die erste Massenorganisation der Russlanddeutschen, die in der ehemaligen Sowjetunion 1989 gegründet wurde und sich für die Interessen und Belange der Russlanddeutschen einsetzt.

Die Gründung der „Allunionsgesellschaft der Sowjetdeutschen für Politik, Kultur und Bildung „Wiedergeburt‘ (Vsesojuznoe obščestvenno-političeskoe i kul’turno-prosvetitel’skoe obščestvo sovetskich nemcev „Vozroždenie“) 1989 geht auf die Autonomiebewegung der Russlanddeutschen zurück, die in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre an Aufschwung ge wonnen hatte. Nachdem in verschiedenen Regionen der ehemaligen Sowjetunion während der Perestrojka-Zeit diverse Verbände entstanden, die den Erhalt und die Wiederbelebung der kulturellen Identität der deutschen Bevölkerungsgruppe anstrebten und sich daher symbolisch „Wiedergeburt“ nannten, fand im März 1989 in Moskau die konstituierende Sitzung der neuen unionsweiten Gesellschaft „Wiedergeburt“ statt. Die Neugründung als landesweite Organisation der Russlanddeutschen verfolgte das Ziel, eine vollständige Rehabilitierung der Deutschen, die Wiederherstellung der deutschen Autonomie an der Wolga und der nationalen Rayons in Gebieten mit dichter deutscher Besiedlung zu erreichen und den Erhalt der deutschen Sprache sowie die Bewahrung und Weiterentwicklung der nationalen Kultur und Identität zu fördern. Zum Vorsitzenden der Gesellschaft wurde der aus der Ukraine kommende Biologe Heinrich Groth, zum Co-Vorsitzenden der Schriftsteller Hugo Wormsbecher gewählt. Es wurden die Satzung und das Programm der Gesellschaft verabschiedet sowie ihre leitenden Organe, darunter der siebenköpfige Vorstand gewählt.

Nach der Gründungskonferenz entstanden in zahlreichen Städten und Regionen locale Organisationen der „Wiedergeburt“, die nach dem Zerfall der Sowjetunion als selbständige Verbände reorganisiert wurden. Die Mitgliederzahl der Gesellschaft stieg rasant an und erreichte 1992 schätzungsweise Hundert Tausend Mitglieder (die genaue Zahl der Mitglieder ist allerdings unbekannt; zudem wird der Anstieg der Mitgliederzahlen auf die Ausreise stimmung der Russlanddeutschen zurückgeführt, die derart das in den deutschen Einrei seanträgen erfragte gesellschaftliche Engagement nachweisen konnten).

Die angestrebte Autonomie erwies sich dabei als wichtigste Bedingung für den Verbleib der Deutschen in der Sowjetunion. Wie diese jedoch zu erreichen sei, war unter den füh renden Aktivisten der „Wiedergeburt“ umstritten. Die divergierenden Vorstellungen hinsichtlich der Erreichung dieses Hauptanliegens traten bereits während der zweiten Konferenz der Gesellschaft im Januar 1990 deutlich hervor. Dabei standen die Vertreter der radikalen Forderung nach unverzüglicher Wiederherstellung der Wolgarepublik innerhalb der alten Grenzen um den Vorsitzenden Heinrich Groth den gemäßigten Vorstellungen der anderen Gruppe um den stellvertretenden Vorsitzenden Hugo Wormsbecher gegenüber. Aufgrund der unüberbrückbaren Spannungen kam es zu einem Bruch innerhalb der Gesellschaft. Hugo Wormsbecher und seine Anhänger, die eine schnelle Wiederherstellung der deutschen Autonomie für unrealistisch hielten und sich zunächst mit einer „Kulturautonomie“ ohne eigenes Territorium zufrieden gaben, traten aus der „Wiedergeburt“ aus und gründeten 1991 den „Verband der Deutschen der UdSSR“, der nach dem Zerfall der So wjetunion in den „Internationalen Verband der Russlanddeutschen“ umbenannt wurde und bis 1999 existierte. Zum Vorsitzenden des Verbandes wurde Peter Falk gewählt, der nach einem Jahr von Hugo Wormsbecher abgelöst wurde. Die Gesellschaft „Wiedergeburt“ selbst reorganisierte sich als „Zwischenstaatliche Vereinigung der Deutschen der ehemaligen UdSSR“, behielt aber die Kurzbezeichnung „Wiedergeburt“ bei. Sie unterhielt in allen Staaten der GUS Zweigstellen.

Die Spaltung der Gesellschaft „Wiedergeburt“ wurde vielfach als Schwächung der nationale Bewegung der Russlanddeutschen interpretiert. Unter den Umständen der Teilung schlug jedenfalls das ZK der KPdSU die Einberufung des ersten Kongresses der Sowjetdeutschen vor, dessen Ergebnis die Gründung einer neuen Organisation – der „Assoziati on der sowjetischen Deutschen“ – und die Konstituierung ihrer leitenden Organe als einer Form der staatlichen Vereinigung ohne Territorium, aber mit Elementen der nationalen Selbstverwaltung sein sollte. Dieser Vorschlag wurde vom gemäßigten Flügel um Hugo Wormsbecher unterstützt.

Die Bereitschaft eines Teils der „Wiedergeburt“-Protagonisten mit den Machtorganen  zu kooperieren, wurde von den „Maximalisten“ um Heinrich Groth als Verrat an den Interessen der Russlanddeutschen aufgefasst. Bezeichnend für die Tätigkeit der „Wiedergeburt“ nach der Spaltung war daher die Kommunikation von immer radikaleren und ultimativ vorgetragenen Forderungen, wie etwa die Wiederherstellung der deutschen Autonomie innerhalb von sechs Monaten und nur in den alten Grenzen oder die Ausreise aller Russland deutschen (die Losung „Autonomie oder Ausreise“). Da die Wiederherstellung der geforderten Wolgarepublik nicht umgesetzt werden konnte, setzte sich die „Wiedergeburt“ für die Ausreise der Deutschen in die Bundesrepublik ein und unterstützte die ausreisewilligen Deutschen bei der Antragstellung. Auch der Vorsitzende Heinrich Groth wanderte 2001 in die Bundesrepublik aus. In Folge dieser Entwicklung reduzierte sich die Zahl der Russlanddeutschen in Russland und den Ländern der GUS erheblich.

Der Zerfall der Sowjetunion führte letztlich dazu, dass die nationale Bewegung der Russlanddeutschen in mehrere Organisationen zerfiel, darunter den Internationalen Verband der Russlanddeutschen um Peter Falk und Hugo Wormsbecher, den Internationalen Verband der deutschen Kultur (IVDK) unter der Leitung von Heinrich Martens (1991), die Bal tische Liga um Kurt Wiedmayer oder die 1992 konsolidierte Landsmannschaft der Wolgadeutschen. Nur der IVDK blieb bis heute eine Organisation von nationaler Reichweite.

Die Gesellschaft „Wiedergeburt“ als Teil der Selbstorganisationsstruktur der Russlanddeutschen ist heute nur auf regionaler Ebene, in vielen Städten und Regionen Russlands aktiv. Sie nimmt die Interessenvertretung der Russlanddeutschen in der jeweiligen Region wahr. Viele „Wiedergeburt“-Gesellschaften sind Mitglieder des Internationalen Verbands der deutschen Kultur. Schwerpunkte der gegenwärtigen Arbeit von „Wiedergeburt“ liegen vorwiegend im Bildungs- und kulturellen Bereich, dabei traditionell vor allem in der „Wiedergeburt der Russlanddeutschen“ als eines der Völker Russlands. Die Gesellschaften führen Projekte zur Wiederbelebung der deutschen Kultur, Traditionen und russlanddeutschen Eigenart durch, veranstalten Deutschkurse und organisieren Kulturveranstaltungen wie Feste, Folklorefestivals, Theateraufführungen in deutscher Sprache oder zelebrieren Gedenktage. Außerdem engagieren sie sich in der Jugendarbeit und im sozialen Bereich und unterstützen ehemalige Angehörige der Arbeitsarmee und sozial benachteiligte Bevölkerungsschichten.

Trotz des Verlustes an politischem Einfluss, den sie nach 1991 in Russland erfuhr, hat die„Wiedergeburt“ zur Konsolidierung der russlanddeutschen Minderheit und zur Belebung interethnischer Kommunikation und Austauschs beigetragen. Der konsequente Einsatz für die Rehabilitierung der Deutschen ermöglichte diesen, erneut am politischen und gesellschaftlichen Leben Russlands Teilhabe zu erlangen. Dank der Bewegung wurde außerdem die Unterstützung der Bundesrepublik für die Russlanddeutschen auf bilateraler Ebene institutionell gefestigt. Schließlich ist „Wiedergeburt“ als eine wertvolle zivilgesellschaftliche Erfahrung zu betrachten.

Anders als ihre russische Schwester spielt die in Kasachstan tätige Gesellschaft „Wiedergeburt“ auf nationaler Ebene auch heute noch eine bedeutende Rolle in der Selbstorgani sationsstruktur der Deutschen Kasachstans. Bis 2017 bestand sie in Form einer Assoziati on der gesellschaftlichen Vereinigungen der Deutschen Kasachstans „Wiedergeburt“, die alle regionalen Gesellschaften der Deutschen Kasachstans vereinigte. Sie wirkte aktiv bei vielen politischen Entscheidungen der Regierung der Republik Kasachstan mit, die die deutsche Bevölkerung betrafen, und führte verschiedene Projekte zur Unterstützung der Deutschen Kasachstans durch (Netzwerke der Begegnungszentren und der Sozialstationen, Bildungs- und Informationszentrum Karaganda, Schulen für optionale Zusatzausbil dung, Sprachkurse und Sprachlager, Deutscher Sozialfond und viele andere). 2018 trat die Assoziation der 2017 gegründeten gesellschaftlichen Stiftung „Wiedergeburt“ bei und bringt weiterhin nachhaltig eine deutsche-kasachische Perspektive in die Gesellschaft ein.

Literatur

Vormsbecher, Gugo: Ot „Vozroždenija“ k I Sezdu nemcev SSSR (iz istorii obščestvennogo dviženija rossijskich nemcev). In: German, Arkadij (Hg.): Rossijskie nemcy: 50 let poslevoennomu obščestvennomu dviženiju: ot pervych delegacij v pravitel’stvo čerez „Vozroždenie“ k sovremennoj sisteme Samoorganisacii (1964–2014 gg). Moskva 2015, S. 58-72; Ilarionova, Tat’jana: Vremja nadeždy i vybora: k istorii obščestva „Vozroždenie“ i sezdov rossijskich nemcev (1989–1993 gg.). In: ebd., S. 73-80; Nemcy v Rossii: obščestvennye organizacii, ličnosti, učreždenija i partnjery: Spravočnik. Moskva 2008; Dietz, Barbara: Zwischen Anpassung und Autonomie. Rußlanddeutsche in der vormaligen Sowjetunion und in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1995; Lizenberger, Olga: Gründungskonferenz der „Wiedergeburt“. In: https://enc.rusdeutsch.eu/articles/5986

Autoren: Donig Natalia, (Passau)

ЗEINE FRAGE STELLEN