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KNAUER , Fjodor (Friedrich) Iwanowitsch (Knauer, Matthäus Friedrich) (1849–1917), Doktor der vergleichenden Sprachwissenschaft, Extraordinar-, Ordinar-, verdienter Professor des Lehrstuhls für vergleichende Sprachwissenschaft und Sanskrit der Hl. Wladimir-Universität (Kiew)

Rubrik: Biographische Beiträge (Personalien) / Vertreter des sozialen Bereichs (Bildung, Medizin)
Friedrich Knauer

KNAUER, Fjodor (Friedrich) Iwanowitsch (Knauer, Matthäus Friedrich) (3. August 1849, Sarata im Gouvernement Bessarabien, heute Gebiet Odessa in der Ukraine – 22. Dezember 1917, Tomsk), Doktor der vergleichenden Sprachwissenschaft, Extraordinar- (ab 1. Januar 1886), Ordinar- (ab 1. Januar 1890), verdienter (ab 2. Juli 1909) Professor des Lehrstuhls für vergleichende Sprachwissenschaft und Sanskrit der Hl. Wladimir-Universität (Kiew); Autor eines Sanskrit-Lehrbuches, das mehrere Jahrzehnte lang als wichtigstes Lehrmittel beim Studium des Sanskrit in Hochschulen diente.

Lutheraner, jüngster Sohn in der Familie eines deutschen Kolonisten. Die Eltern stammten aus Süddeutschland, aus dem Kreis von Waiblingen in der Region Stuttgart (der Vater aus Grünbach, die Mutter aus Fellbach). Absolvent der Werner-Zentralschule von Sarata (1865), erhielt zum Abschluss das Zeugnis eines Pfarrei-Lehrers. Arbeitete 1865–1867 als Gehilfe eines Lehrers in Tarutino und Hauslehrer in der Familie des hiesigen Pastors Franz Wilhelm Pingoud (1817–1882). Er beschäftigte sich mit den Pastorenkindern, unter anderem mit Ottomar (1848–?), einem späteren Pastor, und Guido (1851–1914), dem späteren Generalsuperintendent des St. Petersburger Evangelisch-Lutherischen Konsistorialbezirks. 1867 kehrte er für ein Jahr nach Sarata zur Vervollkommnung der Russisch-Kenntnisse zurück. 1868–1869 – Lehrer an der lutherischen Kirchenschule von Berdjansk. Im Mai 1869 zog er in die Kolonie Neu-Stuttgart um, arbeitete dort als Dorfschullehrer. In der Zeit seiner Tätigkeit in Berdjansk erlernte er selbständig alte Sprachen. In Neu-Stuttgart studierte er Sprachen unter der Anleitung von Pastor Ludwig Zeller (1819–1885), einem Absolventen der Universität von Tübingen. Im Dezember 1871 bestand er in Dörpt (das heutige estnische Tartu) die Reifeprüfung.

Die Hochschulausbildung erhielt er in der Universität von Dörpt. Anfangs studierte er an der theologischen Fakultät (Januar 1872–Januar 1877). Drei Jahre lang erhielt er ein Stipendium von der Kirche. Nachdem er auf die spätere Karriere eine Theologen verzichtet hatte, war er gezwungen, die für ihn aufgewendete Summe zurückzuerstatten. Daher arbeitete er 1876–1878 parallel zu seinem Studium als Hauslehrer. Ab August 1877 hatte er sich als Student für vergleichende Sprachwissenschaft an der historisch-philologischen Fakultät der Universität von Dörpt eingeschrieben. Im Januar 1880 bestand er das Examen für den wissenschaftlichen Grad eines Doktors der vergleichenden Sprachwissenschaft und im September verteidigte er seine Doktorarbeit.  

Mit einem Stipendium der studentischen Korporation Livonia (auch: Landsmannschaft Livonia), deren Mitglied er war, ging Knauer im Herbst 1880 zwecks Fortsetzung des Studiums nach Deutschland. Ab 1. September 1881 war er durch das Volksbildungsministerium für zwei Jahre auch dorthin zwecks Vervollkommnung in der Fachrichtung entsandt worden. Insgesamt studierte Knauer anderthalb Jahre an der Jenenser Universität unter Leitung der Professoren Berthold Delbrück (Vorlesungen zur vergleichenden Sprachwissenschaft und zum Sanskrit), Carl Capeller (auch: Karl Kapeler) (Sanskrit und Prakrit) und Eduard Sievers (allgemeine Phonetik und deutsche Sprache). Genauso lange studierte er die vedische und avestische Sprache bei Professor Rudolf von Roth in Tübingen. Im Herbst 1883 kehrte er nach Russland, nach Moskau zurück, um gründlich die russische Sprache zu studieren. Er hörte Vorlesungen der Professoren Wsewolod Fjodorowitsch Miller, Filipp Fjodorowitsch Fortunatow u. a.

In Jena schrieb er die Abhandlung zur Erlangung des Grades eines Magisters „Über die Betonung der Composita mit a privativum im Sanskrit“ (verteidigt am 27. September 1882 in Dörpt). Im Sommer 1884 ging er nach Dörpt, um die Doktorarbeit abzuschließen und zu drucken, die in Tübingen unter Leitung von R. von Roth begonnen worden war. Am 11. September 1884 verteidigte er in der Universität von Dörpt als Doktorarbeit die Ausgabe und deutsche Übersetzung des alten Literaturdenkmals „Das Gobhilagrhyasūtra. T. I: Text nebst Einleitung“.

Ab 7. Juni 1884 galt er als im Volksbildungsministerium angestellt. Ab August 1884 – Privatdozent der Universität von Dörpt. Am 5. März 1885 hielt er die Auftaktvorlesung zur vergleichenden Sprachwissenschaft über Ilma und Zarathustra an der Hl. Wladimir-Universität, begann als Privatdozent zu unterrichten. Ab 1. Januar 1886 als Professor der Universität angestellt. Ab 19. Februar 1907, nach Beendigung einer 25jährigen Dienstzeit, wird er für weitere 5 Jahre verlängert, und 1912 wurde er als freiberuflicher Professor eingestuft. Schüler von Friedrich Knauer waren: Jewgenij Konstantinowitsch Timtschenko (1866–1948), M. Oppokow, Sergej Stepanowitsch Dloschewskij (1889–1930), Michailo Jakowitsch Kalinowitsch (1888–1949) und  Anna Nikolajewna Imschenitzkaja. Während des Unterrichts machten die Studenten mündliche und schriftliche Übersetzungen aus dem Russischen in die indoeuropäische Ursprache und besuchten praktische Lehrstunden zur gotischen Sprache und zum Sanskrit.

1888 nahm Knauer die Ausgrabung von fünf aufgeschütteten Grabhügeln (Kurgane) in der Nähe von Sarata vor. Er nahm am 13. (4.–10. September 1902, Hamburg) und 16. (April 1912, Athen) internationalen Orientalisten-Kongress teil.

1905 unterzeichnete Knauer das bekannte „Schreiben der 342 Wissenschaftler“ (neben anderen 16 Akademiemitgliedern, 125 Professoren und 201 Dozenten) und trat dem Akademischen Bund – einer Organisation linker und liberaler Professoren – bei, der im Frühjahr 1905 auf Initiative von Wladimir Iwanowitsch Wernadskij zur Konsolidierung der fortschrittlichen Intelligenz im Ringen um demokratische Umgestaltungen im Hochschulwesen gebildet worden war.  

Ab 1907 lebte Knauers Familie in Jena. Die älteren Kinder gingen ins Gymnasium. 1911 beantragte der Professor die Entlassung seiner Kinder aus der russischen Staatsbürgerschaft. Für den jüngeren Sohn Helmut erfolgte die allerhöchste Genehmigung am 19. Dezember 1912. Am 17. Juli 1914 wurde der ältere Sohn Siegfried aus der Staatsbürgerschaft Russlands entlassen.

Den Ausbruch des Ersten Weltkrieges erlebte Knauer mit seiner Familie in Deutschland. Die älteren Kinder (Sohn und Tochter) studierten bereits an der medizinischen Fakultät der Jenenser Universität. Dem Professor war es allein gelungen, nach Russland zurückzukehren. Die Gattin und Kinder aber blieben in Jena unter Polizeiaufsicht als Zivilgefangene. Nach der Rückkehr Knauers nach Kiew schlug ihm der Kurator des Kiewer Lehrbezirks Alexej Nikolajewitsch Derewizkij vor, seine Entlassung unter Verweis auf seine Krankheit zu beantragen und das Halten von Vorlesungen zur Sprachwissenschaft in der Universität und bei den Höchsten Frauenlehrgängen einzustellen. Das Entlassungsgesuch schrieb Knauer am 24. November 1914. Danach begann in den Zeitungen eine Hetzkampagne gegen den Professor. Es erschienen verleumderische Beiträge, wonach Knauers Kinder gegen Russland kämpfen würden. Die Dementis des Professors, wonach die Söhne nicht in der deutschen Armee dienen würden, wurden ignoriert.

Am 24. Dezember 1914 wurde Knauer in Kiew verhaftet und im Lybedj-Polizeirevier eingesperrt, seine Pension und sein Eigentum wurden beschlagnahmt. Am 8. Januar 1915 wurde der Professor nach Tomsk verbannt. Und am 16. Februar 1915 traf er in Kainsk ein. Die ganze Verbannungszeit existierte Knauer mit Mitteln des Literaturfonds (der Gesellschaft zur Unterstützung bedürftiger Literaten und Wissenschaftler). Der Knauer im Januar 1915 untersuchende Arzt Iwan Michailowitsch Lewaschow, Professor der Tomsker Universität, stellte eine Reihe ernsthafter Erkrankungen inkl. Diabetes fest, die eine Heilbehandlung und Beobachtung in der Universitätsstadt erforderten.  

Zur Verteidigung Knauers meldeten sich die Akademiemitglieder Alexander Petrowitsch Karpinskij, Sergej Fjodorowitsch Oldenburg, Wladimir Nikolajewitsch Peretz und Alexej Alexandrowitsch Schachmatow zu Wort. Sie sandten an den Präsidenten der Akademie der Wissenschaften, an Großfürst Konstantin Konstantinowitsch, ein Gesuch zwecks Gewährung von Unterstützung für den verbannten Professor. Am 21. Januar 1915 wandte sich der Präsident persönlich zwecks Hilfe an den Bildungsminister Graf Pawel Nikolajewitsch Ignatjew mit der Bitte, den Wissenschaftler nach Kasan oder in jegliche andere Universitätsstadt zu verlegen, wo der Professor seine wissenschaftlichen Arbeiten fortsetzen und insbesondere die Herausgabe eines Sanskrit-Textes, mit der ihn die Akademie der Wissenschaft beauftragt hatte, beenden könnte. Eine Abordnung von Akademiemitgliedern suchte 1915 persönlich den Herrn Innenminister General Wladimir Fjodorowitsch Dschunkowskij auf und wandte sich danach schriftlich an den Justizminister Alexander Alexejewitsch Chwostow. Am 22. April 1915 wurde Knauer von Kainsk aus nach Tomsk unter Polizeiaufsicht zurückgebracht. Knauer versuchte, wissenschaftliche Arbeiten vorzunehmen. Im Sommer 1915 verwehrten der Rektor und der Professorenrat der Tomsker Universität Knauer das Recht, in der Universitätsbibliothek zu arbeiten. Im März 1917 wandte sich erneut eine Gruppe von Akademiemitgliedern bereits an den Justizminister der Provisorischen Regierung Alexander Fjodorowitsch Kerenskij mit der Bitte, den Professor freizulassen. Am 3. Mai 1917 reichte Knauer ein erneutes Gesuch ein, um ihn nach Petrograd, Moskau oder in eine andere Stadt zu verlegen.  

Am 1. Juni 1917 wurde in Tomsk ein Telegramm vom Innenminister empfangen, und am 12. Juni wurde Knauer bekanntgegeben, dass ihm erlaubt sei, in den europäischen Teil Russlands zurückzukehren und an jedem beliebigen Ort mit Ausnahme des Kiewer Militärbezirks und des Kriegsschauplatzes zu leben. Bürokratische Verzögerungen und dann die revolutionären Ereignisse verhinderten dies. Am 4. Januar 1918 erlaubten die neuen Machthaber – das Generalsekretariat der Ukrainischen Rada – dem Professor, wieder seinen Wohnsitz in Kiew zu nehmen. Zu der Zeit weilte er schon nicht mehr unter den Lebenden. Knauer war in Tomsk am 22. Dezember verstorben und wurde am 27. Dezember 1917 beigesetzt.  

Verheiratet war er mit Antonia Wilhelmine Karlowna (geb. Bendtfeld; um 1866 – ?, Riga), einer Lutheranerin. Kinder: Luisa (Ilse, Dezember 1892 / 7. Januar 1893, Kiew – 3. August 1981, Arlesheim, Schweiz), HNO-Ärztin; Friedrich Siegfried (26. Juni 1894 – 20. Dezember 1984, Mattala, Sri Lanka), Arzt; Helmut (31. März / 12. April 1896, Kiew – 29. Juli 1980, Pforzheim, Deutschland), Physiker, Mineraloge; Erna (Solti-Knauer) (26. April 1898, Kiew – 6. Dezember 1969, Hamburg), Theaterschauspielerin; Frieda (1901–?); Nanda (1903–?).

INHALT

Schriften

O proischoždenii imeni naroda rus' (Über die Herkunft des Namens des Volkes Rusj). – М.: Druckerei von A. I. Snegireva, 1901; Rukovodstvo k izučeniju sanskrita. Grammatika, teksty i slovar‘ (Anleitung zum Studium des Sanskrit. Grammatik, Texte und Wörterbuch). – Sankt Petersburg, 1891 (in Mitautorenschaft von Prof. W. F. Miller); Učebnik sanskritskogo yazyka. Grammatika. Chrestomatija. Slovar’ (Lehrbuch des Sanskrit. Grammatik. Textsammlung/Lesebuch. Wörterbuch). – Leipzig, 1908; 2. Aufl. – М., 2011; 3. Aufl. – М., 2015; Das Gobhilagrhyasūtra. T. I: Text nebst Einleitung. – Dorpat, 1884; Das Gobhilagrhyasūtra. T. II: Einleitung, Übersetzung, Erläuterungen. – Dorpat, 1886.

 

Archive

Russisches historisches Staatsarchiv. F. 740. Op. 18. D. 34.

Staatsarchiv des Tomsker Verwaltungsgebietes. F. 3. Op. 77. D. 1226; F. 527. Op. 1. D. 695.

Literatur

Biografičesko-bibliografičeskij apparat (Biografisch-bibliografischer Apparat) // Učebnik sanskritskogo yazyka. Grammatika. Chrestomatija. Slovar’ (Lehrbuch des Sanskrit. Grammatik. Textsammlung/Lesebuch. Wörterbuch) / Zusammengestellt von F. I. Knauer / Red. und Anl. M Yu. Gasuns, Vorwort von I. A. Svyatopolk-Četvertynskij.– 3. Aufl., korr., erg. – М., 2015. – S. 324–396; Vigasin, A. A. Izučenie Indii v Rossii (očerki i materialy) (Das Studium Indiens in Russland (Abrisse und Materialien)). – М., 2008. – S. 194–195; Čerkaz´janova, I. V. Nemcy – rossijskie učenye v gody Pervoj mirovoj vojny: epizody iz istorii Akademii nauk (Deutsche – russische Wissenschaftler in den Jahren des Ersten Weltkrieges: Episoden aus der Geschichte der Akademie der Wissenschaften) // Voprosy germanskoj istorii (Fragen der deutschen Geschichte): Sammelband wiss. Arbeiten / Unter der Red. Von S. I. Bobyleva. – Dnepropetrowsk, 2008. – S. 23–33; Čerkaz´janova, I. Das Abreißen der russisch-deutschen Wissenschaftskontakte während des Ersten Weltkriegs und ihre Wiederaufnahme zu Beginn der 1920er Jahre // // Besetzt, interniert, deportiert. Der Erste Weltkrieg und die deutsche, jüdische, polnische und ukrainische Zivilbevölkerung im östlichen Europa / Hrsg. v. Alfred Eisfeld, Guido Hausmann und Dietmar Neutatz. Essen: Klartext-Verlag 2013. – Essen, 2013. – S. 351–371; Krieger, V. Vom Schulmeister zum Nobelpreisträger: geistige und intellektuelle Bestrebungen unter der deutschen Minderheit // Heimatbuch der Deutschen aus Russland. – Stuttgart, 2014. – S. 71–132 (über Knauer – siehe S. 91).

Archive

Biografičeskij slovar‘ professorov imperatorskogo Jurjevskogo, byvšego Derptskogo universiteta za sto let ego sušžestvovanija (1802–1902) (Biografisches Wörterbuch der Professoren der kaiserlichen Jurjew-, der früheren Dorpater Universität für einhundert Jahre ihres Bestehens (1802–1902)) / Unter der Red. von G. V. Levickij – Bd. 2. – Jurjew, 1903.– S. 574–579; Ličnyj sostav universiteta sv. Vladimira k 1 ijulja 1910 (Personalbestand der Hl. Wladimir-Universität mit Stand vom 1. Juli 1910). – Kiew, 1910; Otčet o sostojanii i dejatel’nosti imperatorskogo universiteta sv. Vladimiria za … 1907–1913 god (Bericht über den Zustand und die Tätigkeit der kaiserlichen Hl. Wladimir-Universität  für die Jahre 1907–1913). – Kiew, 1912–1915; Pamjatnaja knižka Kievskogo učebnogo okruga na 1915/16 učebnyj god (Erinnerungsbuch des Kiewer Lehrbezirks für das Studienjahr 1915/16). – Kiew, 1916. – S. 7; Protokoly Obšžego sobranija Akademii nauk (Protokolle der Vollversammlung der Akademie der Wissenschaften). – [Pg.], 1917. – § 177; Spisok licam, služaššim po vedomstvu Ministerstva narodnogo prosvešženija na 1888/89 učebnyj god (Verzeichnis der Personen, die für das Volksbildungsministerium im Ausbildungsjahr 1888/89 dienen). – Sankt Petersburg, 1888. – S. 421.

Autoren: Tscherkasjanowa I. W.

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