Republik der Wolgadeutschen, Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen, Deutsche Republik, autonome nationale Gebietskörperschaft innerhalb der RSFSR; gegründet durch Beschlussfassungen des Politbüros des ZK der RKP(b) (13. Dezember 1923), des Ersten Sowjetkongresses der ASSR der Wolgadeutschen (6. Januar 1924) sowie des Allrussischen Zentralexekutivkomitees und des Rats der Volkskommissare der UdSSR (22. Februar 1924) auf Grundlage des seit Oktober 1918 bestehenden Gebiets der Wolgadeutschen; an der unteren Wolga gelegen; gehörte von 1928 an zur Region Untere Wolga; grenzte an die Gebiete Saratow und Stalingrad sowie die Kasachische SSR (1941). Fläche – 28.400 km²; 6.200 km² auf der rechtsufrigen Bergseite, 22.200 km² auf der linksufrigen Wiesenseite. Verwaltungszentrum – Engels (ursprünglich Pokrowskaja Sloboda, 1914-31 Pokrowsk). In der ASSR der Wolgadeutschen lebte neben anderen Völkern die deutsche Bevölkerung der Wolgaregion, deren Geschichte bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht.
Das Territorium der Republik der Wolgadeutschen lag in der Waldsteppen- und Steppenzone. Für die Landschaft insgesamt ist ein ebenes Relief mit einzelnen Erhebungen charakteristisch. Zu den wichtigsten Einzellandschaften gehören die Wolgaplatte, die Oka-Don-Ebene, das Wolgatal sowie auf dem linken (östlichen) Ufer der Wolga (Sawolschje) gelegene Syrt-Ebene.
Die Wolgaplatte erstreckt sich am rechten (westlichen) Ufer der Wolga. Nach Osten fällt sie steil zur Wolga ab und ist stark erodiert, nach Westen fällt sie flacher ab und geht kaum merklich in die Oka-Don-Ebene über. Die Wolgaplatte ist von Flusstälern durchzogen, die zum Einzugsgebiet des Flusses Medwediza und der rechtsufrigen Zuflüsse der Wolga gehören. Neben den Flusstälern weist die Wolgaplatte zahlreiche Balka-Reliefs auf, was ihr zusammen mit Erosionsschluchten eine einzigartige zerschluchtete Oberflächenstruktur verleiht.
Die sich westlich an die Wolgaplatte anschließende Oka-Don-Ebene erstreckt sich über das Einzugsgebiet der Flüsse Medwediza, Choper und Tersa. Die Ebene weist ein flaches oder leicht hügeliges Relief mit einem leichten Gefälle nach Süden auf und wird von weiten terrassierten Flusstälern und zahlreichen engen Schluchten und Senken zerteilt.
Das Wolgatal bildet eine breite Pleistozän-terrassierte Ebene. Es haben sich zwei Ebenen der Flussaue (Hoch- und Niedrigwasser) und vier über den Auen gelegene Terrassen gebildet. In der von uns betrachteten historischen Zeit hatte die Wolga zahlreiche Alt- und Nebenarme.
Die im Sawolschje gelegene Syrt-Ebene weist ein leicht welliges Relief auf, das vor allem durch breite Wasserscheiden-Erhebungen (die sogenannten Syrty) geprägt ist. Die Oberfläche ist von zahlreichen Fluss- und Talräumen durchzogen, die allerdings nicht sehr tief sind.
Klima – kontinentales arides Klima, insbesondere auf dem linken Ufer mit großen jährlichen Schwankungen. Gemäßigte Klimazone. Durchschnittlich jedes zweite Jahr ist regenarm. In den Tälern der kleinen Flüsse, am Fuß des östlichen Abhangs der Wolgaplatte und in der Wolganiederung herrscht zum Teil ein günstiges Mikroklima.
In den frostreichen Wintern schwankt die mittlere Temperatur zwischen -10 °C am rechten Wolgaufer und bis zu -14 °C im Sawolschje; die Tiefsttemperatur kann bei bis zu -30-35 °C, selten auch unter -40 °C liegen. Große Temperaturschwankungen mit zwischenzeitlichen Tauwettern. Die Winter sind oft schneereich, mit einer Schneedecke von über 50 cm. Es kommt häufig zu Schneestürmen mit hohen Windgeschwindigkeiten.
In den durchschnittlich 4,5 Monate langen Sommern schwankt die Durchschnittstemperatur zwischen 21 °C und 24 °C. In der Regel sind die Sommermonate trocken und wolkenlos. Von Ende Juni bis Mitte August gibt es oft lang anhaltende Hitzeperioden, bei denen die Temperatur nicht unter 30 C° fällt. Auf dem linken Ufer gibt es oft starke Trockenwinde. Die sommerlichen Niederschläge sind sowohl zeitlich als auch räumlich recht unregelmäßig verteilt. Die durchschnittliche Niederschlagsmenge beträgt in den drei Sommermonaten auf dem rechten Ufer 160 mm und manchmal mehr, im Wolgatal 110–130 mm, auf dem linken Ufer (Sawolschje) 90–100 mm. Die Niederschläge fallen häufig in Form von Starkregen, die monatliche Niederschlagshäufigjkeit liegt bei ein bis zwei Regentagen. Bei Starkregen ist ein starker Oberflächenabfluss zu verzeichnen, bei dem die fruchtbare oberste Erdschicht weggespült wird und sich Erosionsrinnen bilden.
Hauptgewässer sind die Wolga und ihre linken Nebenflüsse (Bolschoj Karaman, Malyj Karaman, Jeruslan, Torgun u.a.). Die Westgrenze der Republik der Wolgadeutschen verlief entlang des in südlicher Richtung fließenden Flusses Medwediza. Zwischen Wolga und Medwediza liegen die kleineren Flüsse Karamysch, Ilowlja u.a. Die Breite des Wolgatals schwankt zwischen 2-3 und 30-35 km. Das rechte Ufer ist in der Regel hoch und nicht selten steil, das linke Ufer flach abfallend und zum Teil sumpfig mit zahlreichen Neben- und Altarmen und vielen Inseln. Bei den frühjährlichen Hochwassern wurden weite Territorien des linken Ufers überflutet.
Die anderen Flüsse sind typische Flachlandflüsse und fließen in einem gut ausgebildeten Flussbett vor allem in südlicher Richtung. Ihre Wasserbilanz ist infolge der geringen Niederschlagsmenge und großer Verdampfung in den Sommermonaten eher niedrig, so dass die winterlichen Niederschläge eine wichtige Rolle für die Speisung der Flüsse spielen. Die schnelle Schneeschmelze im Frühjahr sorgt für reißende Hochwasser mit hohem Zerstörungspotential. Im Winter frieren alle Flüsse zu und werden nur durch Grundwasser gespeist. Für die Flüsse des Sawolschje ist im heißen Sommer eine starke Austrocknung und in der Folge ein erheblicher Rückgang des Wasserflusses charakteristisch.
Für das rechte Ufer sind vor allem Schwarzerdeböden mit hoher natürlicher Fruchtbarkeit charakteristisch. In der Waldsteppenzone gibt es zum Teil größere Areale mit grauen Waldböden (Alfisol). Im südlichen Teil des rechten Ufers liegen Kastanosem-Böden. In den Flusstälern liegt Marschland. Auf dem linken Ufer dominieren ebenfalls Schwarzerdeböden. Südlich des Flusses Bolschoj Igris liegen entlang der Linie Richtung Nowousensk Kastanosem-Böden, südlich davon Schwarzalkaliböden.
Weite Teile des rechten Ufers sind mit Wäldern unterschiedlichen Typs bedeckt, vor allem sommergrüner Laubwald. Die natürliche Waldgrenze verläuft auf der Linie Balaschow – Petrowsk – Wolsk. In den südlich dieser Grenze gelegenen Steppe, in der der rechtsufrige Teil der Republik der Wolgadeutschen lag, wachsen entlang der Abhänge von Balka- und Erosionsschluchten größtenteils Eichenwälder. Auch die Flussniederungen sind bewaldet. In der Wolganiederung gibt es erhebliche Waldbestände. Das linke Ufer stellt eine Steppenzone mit eher kargem Bewuchs dar.
Die Fauna ist ziemlich reich und vielfältig. Am weitesten verbreitet sind Hase, Fuchs, Wolf, Flussbiber, Wildschwein, Murmeltier, Erdmännchen, Kranich, Adler, Habicht u.a. Im Sawolschje lebten Saigaantilopen, Großtrappen, Zwergtrappen usw. In den Flüssen kommen bis zu 50 Fischarten vor, darunter Störartige (Störe, Sternhause, Sterlet u.a.), Wels, Hecht und Karpfen.
Die Amtssprachen der Republik der Wolgadeutschen waren gleichberechtigt Russisch, Deutsch und Ukrainisch. Der Schriftverkehr erfolgte im Bedarfsfall in allen drei Sprachen.
Die Statuserhöhung der Deutschen Autonomie (Republik statt Gebiet) diente vor allem außenpolitischen Zielen und sollte deren Prestige und folglich die Attraktivität der Sowjetmacht insgesamt im Ausland steigern. Darüber hinaus sollte laut einem an das ZK der RKP(b) adressierten Bericht der Führung des Gebiets der Wolgadeutschen das reichsdeutsche Proletariat „moralisch unterstützt“ werden und „Orientierungshilfen“ im Kampf bekommen. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten auch die Interessen der Partei- und Staatsführung des Gebiets (G. König, I. Schwab, W. Kurz, G. Fuchs u.a.), deren Vertreter die darauf hofften, durch die Statuserhöhung der Autonomie ihre persönliche Stellung zu festigen, größere Handlungsfreiheit zu erlangen und aus Moskau mehr Mittel und Privilegien zugeteilt zu bekommen. In der Praxis hatte die Ausrufung der ASSR der Wolgadeutschen keine spürbaren Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der Bevölkerung.
Im Rahmen der Leninschen Nationalitätenpolitik wurden zahlreiche politische Aktionen und Kampagnen durchgeführt, die nach Intention ihrer Initiatoren den Rechtsstatus der ASSR der Wolgadeutschen festigen und deren staatliche Souveränität als ethnopolitische Körperschaft sowjetischen Typs innerhalb der UdSSR heben sollten. Der wichtigste Akt dieser Art war die Annahme der Verfassung der ASSR der Wolgadeutschen im Jahr 1926, die allerdings von Moskau nicht abschließend bestätigt wurde und deshalb nie in Kraft trat. Zur Steigerung des von der Ausrufung der Republik der Wolgadeutschen ausgehenden Effekts beschloss deren Führung am 5.04.1924 eine Amnestie, die allerdings ausschließlich propagandistischen Zielen diente, da für Begnadigungen die Führung der UdSSR zuständig war. Nach langer Verschleppung wurden letztlich nur ein paar Dutzend Bürger tatsächlich amnestiert.
Wie überall in der Sowjetunion lag auch in der ASSR der Wolgadeutschen die Führungsrolle ausschließlich bei den Parteiorganisationen der Bolschewiki, die alle Bereiche des öffentlichen Lebens und alle Bevölkerungsschichten unter unablässiger Kontrolle hielten. In den Jahren 1924-28 wurden die Mitgliederzahlen der Parteiorganisation der Republik mehr als verdoppelt (von 1.100 auf 2.500 Mitglieder und Kandidaten). Zur Zeit des in den Jahren 1928-37 betriebenen forcierten Aufbaus des Sozialismus schwächte sich der Zuwachs merklich ab und lag nur noch bei insgesamt 11,5%, was vom offensichtlichen Unwillen der überwältigenden Mehrheit der Deutschen zeugte, der Kommunistischen Partei beizutreten. In den 1930er Jahren konnte das bolschewistische Regime durch gegen verschiedene Bevölkerungsschichten und -gruppen gerichtete Repressionen, denen Tausende Wolgadeutsche zum Opfer fielen, seine Stellung weiter festigen. Von 1938 an konnte die Parteiorganisation der WKP(b) der ASSR ihren Einfluss auf alle Bevölkerungsschichten noch einmal erheblich steigern, so dass sie Anfang 1941 6.300 Mitglieder und 3.900 Kandidaten hatte. Wie ihre anderen Nationalitäten zugehörigen Altersgenossen stand auch die junge Generation der Wolgadeutschen zunehmend unter dem Einfluss der kommunistischen Ideologie und Praxis. Anfang 1941 waren 24.000 junge Leute Mitglieder des Komsomol. In noch größerem Umfang (über 40.000) traten Kinder den Pionierorganisationen bei. Praktisch jeder junge Schüler war vor dem Krieg Pionier oder Oktoberkind.
Die Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Organisationen wurden durchgehend von der Partei kontrolliert. Das neue pseudodemokratische Sowjetsystem stärkte die Diktatur der Partei. Angesichts der Machtfülle der Partei verloren die offiziellen Organe der Staatsmacht (Sowjets aller Ebenen) zunehmend ihr eigenes Gesicht und stellten nur noch ein Anhängsel der Parteiorgane dar. Die jeglicher politischen Eigenständigkeit beraubten Sowjets waren (insbesondere auf lokaler Ebene) ganz auf die wirtschaftliche Alltagsarbeit fixiert, organisierten die Durchführung immer neuer Kampagnen und halfen, der Bevölkerung Lebensmittel und Geld abzupressen. Integraler Bestandteil des politischen Systems waren Kaderrochaden innerhalb der Führung der Republik (siehe Tabelle 1), in deren Verlauf W. Wegner, Ch. Horst, E. Frescher, A. Welsch, G. Luft, Ja. Popok und W.A. Dalinger einer nach dem anderen von ihren Posten entfernt und repressiert wurden (siehe: politische Elite der Wolgadeutschen). Gegen Personen, die versuchten, Kontakte zu in Deutschland lebenden Verwandten aufrechtzuerhalten, oder humanitäre Hilfe aus dem Ausland bezogen, wurde ein repressiver „Kampf gegen den Faschismus und seine Helfershelfer“ geführt.
Tabelle 1: Höchste Führung der ASSR der Wolgadeutschen in den Jahren 1924-41
Verantwortlicher (Erster) Sekretär des Gebietsparteikomitees der WKP(b)
|
Vorsitzender des Zentralexekutivkomitees (ab Juli 1938 Präsident des Obersten Sowjets) |
Vorsitzender des Rats der Volkskommissare |
|||
Amtszeit (Monat, Jahr) |
Name |
Amtszeit (Monat, Jahr) |
Name |
Amtszeit (Monat, Jahr) |
Name |
02.21-01.28 01.28-09.28 09.28-12.29 12.29-06.32 06.32-01.34 01.34-12.34 12.34-02.36 02.36-01.37 01.37-07.37 07.37-04.38 04.38-11.39 11.39-09.41
|
W. Wegner Ja. Popok* I. Anoschin S. Malow |
01.24-05.30 05.30-01.34 01.34-12.34 12.34-02.36 02.36-03.37 03.37-08.37 08.37-07.38 07.38-09.41
|
01.24-11.29 11.29-05.30 05.30-06.32 06.32-01.34 01.34-12.34 12.34-02.36 02.36-08.37 08.37-07.38 07.38-09.41 |
W. Kurz* A. Gleim* G. Fuchs* A. Gleim* G. Fuchs* A. Welsch* G. Luft* W. Dalinger A. Heckmann** |
* in den Jahren 1937/38 repressiert
** in den Jahren des Deutsch-Sowjetischen Kriegs repressiert
In den Jahren 1936/37 beteiligten sich die Bürger der Republik der Wolgadeutschen im Rahmen der vom Stalinschen Regime durchgeführten Kampagne zur Stärkung der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ an der „Erörterung und Verabschiedung“ der neuen Verfassungen der UdSSR, der RSFSR und der ASSR der Wolgadeutschen, die den Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion spiegeln sollten. Ungeachtet ihres demokratischen Inhalts konnte die auf dem X. Sowjetkongress verabschiedete Verfassung der ASSR der Wolgadeutschen wie auch die Verfassungen der RSFSR und der UdSSR unter den Bedingungen des Stalinschen Regimes keinerlei demokratische Veränderungen im politischen Leben bewirken oder die Allmacht der Partei überwinden und blieb ein formales Dokument ohne jeden Einfluss auf die politische Praxis. So sollte die Republik der Wolgadeutschen z.B. gemäß der im Dezember 1936 verabschiedeten Verfassung der UdSSR den zentralen Organen der RSFSR unterstellt sein, wurde aber de facto noch fast ein ganzes Jahr lang vom Saratower Gebietsparteikomitee der WKP(b) geführt – dem Parteiorgan des Nachbargebiets, das auch zu den Instanzen gehörte, die die neue Verfassung der ASSR der Wolgadeutschen bestätigen mussten.
In den unmittelbaren Vorkriegsjahren wurde das Sowjetsystem weiter reformiert. Nach den im Dezember 1937 abgehaltenen Wahlen zum Obersten Sowjet der UdSSR begann die Kampagne zu den Wahlen zu den Obersten Sowjets der RSFSR und der ASSR der Wolgadeutschen, die zeitgleich am 26. Juni 1938 stattfanden und wie alle vorherigen Wahlen die „unerschütterliche moralisch-politische Einheit von Partei und Volk“ demonstrierten. Einen Monat später wählte der Oberste Sowjet der ASSR der Wolgadeutschen auf seiner ersten Sitzung in Engels sein Präsidium und bestätigte die Regierung der Republik der Wolgadeutschen – den Rat der Volkskommissare. Am 24. Dezember 1939 fanden die Wahlen zu den lokalen Sowjets statt, bei denen in 22 Kantons-, drei Stadt-, fünf Siedlungs- und 281 Dorfsowjets insgesamt über 5.000 Deputierte gewählt wurden.
Die Wahlen der Jahre 1937-39 zeigten, dass die Parteiführung der Republik der Wolgadeutschen Ende der 1930er Jahre eine umfassende Kontrolle über alle Gesellschaftsschichten und politischen Prozesse ausübte und die gesamte Bevölkerung in hohem Maße vom Einfluss der kommunistischen Ideologie durchdrungen war, was sich dadurch erklären lässt, dass innerhalb von etwas mehr als 20 Jahren alle tatsächlichen oder nach Einschätzung der Machthaber potentiellen oppositionellen Kräfte erschossen, ins Lager gesperrt, aus der ASSR der Wolgadeutschen verbannt oder moralisch bedrängt und zur Anpassung an das Regime gezwungen worden waren. Die junge Generation, die zum Zeitpunkt der Wahlen die Volljährigkeit erreichte, hatte überhaupt nie ein anderes System als die bolschewistische Sowjetmacht kennengelernt. Das politische Regime wurde weiter gefestigt, die ideologische Beeinflussung der Bevölkerung intensiviert. Eine politisch-ideologische Kampagne folgte auf die andere. Als Anlasss für die Durchführung von Kampagnen wurden unterschiedliche Ereignisse und Daten genutzt: der XVIII. Parteitag der WKP(b), die Sowjetwahlen, Stalins 60. Geburtstag, die Herausgabe des „Kurzen Kurses der Geschichte der WKP(b) usw.
Die in den 1920er Jahren auf Weisung von oben in der ASSR der Wolgadeutschen betriebene sogenannte „Einwurzelungspolitik“, die die Deutschen als Titularnation und die Rolle der deutschen Sprache im öffentlichen Leben stärken sollte, brachte nicht die erhofften Resultate, da sie den Interessen der internationalistisch gesinnten russisch-deutsch-ukrainischen Parteibürokratie entgegenlief. Die im Zuge der Verschärfung dieser Politik im Jahr 1927 unternommenen Versuche, den Gebrauch der deutschen Sprache in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zwangsweise durchzusetzen, verschlechterten lediglich die Beziehungen zwischen den einzelnen in der Republik lebenden Nationalitäten und führten zu Ausbrüchen des russischen Nationalismus im Alltag. Ende der 1920er – Anfang der 1930er Jahre wurde die „Einwurzelungspolitik“ nach und nach zurückgefahren und von Ende 1934 zunehmend durch eine neue Kampagne verdrängt, die unter der Losung „Kampf gegen Nationalismus und Faschismus“ bzw. „Stärkung der internationalistischen Erziehung“ der Deutschen stand. In der Praxis lief die gesamte Nationalitätenpolitik zu dieser Zeit darauf hinaus, alles genuin Deutsche und Ethnonationale in den einzelnen Lebensbereichen und vor allem im Geistesleben auszumerzen. 1937 wehte bereits der Geist des offenen Misstrauens gegenüber den nationalen deutschen Kadern durch die Politik des ZK der WKP(b). Nach der Absetzung und Verhaftung E. Freschers wurden bis zur Auflösung der Republik der Wolgadeutschen schon keine Deutschen mehr auf den Posten des Ersten Sekretärs des Gebietsparteikomitees der WKP(b) berufen (Ja. Popok, I. Anoschin, S. Malow). Im neuen Büro des Gebietsparteikomitees der WKP(b) stellten die Deutschen nur noch eine Minderheit. Die nationale Zusammensetzung der Delegierten der 20. Gebietskonferenz der WKP(b) illustriert diese Entwicklung besonders deutlich: Unter den 270 stimmberechtigten Delegierten waren nur noch 69 Deutsche (150 Russen, 33 Ukrainer usw.).
In den unmittelbaren Vorkriegsjahren gab es in der Nationalitätenpolitik keine wesentlichen Veränderungen. Innerhalb der Parteiorganisationen, bei denen die reale Macht konzentriert war, spielten Deutsche nur noch eine untergeordnete Rolle. Die überwiegende Mehrheit der Mitarbeiter des aufgeblähten Apparats des Gebietsparteikomitees der WKP(b) und der Republikeinrichtungen waren nicht nur keine Deutschen, sondern noch nicht einmal der deutschen Sprache mächtig. Zugleich besetzten Deutsche die höchsten Posten im Staatsapparat.
Besonders deutlich trat die in den unmittelbaren Vorkriegsjahren zunehmende Diskriminierung der im Wolgagebiet lebenden deutschen Bevölkerung im Kultur- und Bildungsbereich zu Tage. Einen schweren Schlag versetzte dem System der höheren und mittleren nationalen Bildung der am 2. Oktober 1940 getroffene Beschluss der Sowjetregierung, in den Hochschulen und höheren Klassen der Mittelschulen Lehrgebühren einzuführen, in dessen Folge die Zahl der jungen Männer und Frauen, die ihre mittlere und höhere Bildung in deutscher Sprache erhielten, schlagartig sank. Außerdem wurden die deutschen Hochschulen zur Einrichtung russischer Abteilungen gezwungen, was wiederum zur Folge hatte, dass die deutschen Abteilungen weniger junge Leute aufnehmen konnten. Hatten am 1. September 1940 noch 399 Studenten (40%) am Deutschen Pädagogischen Institut in ihrer deutschen Muttersprache gelernt, waren es Ende des Jahres nur noch 180 (32%). Für die nationale Hochschule einer Republik, in der der Anteil der Angehörigen der Titularnation an der Gesamtbevölkerung bei über 60% lag (365.700 Personen), war ein solcher Anteil deutscher Studenten alles andere als zufriedenstellend.
Historisch über 150 Jahre gewachsen lebten die Deutschen in der Wolgaregion größtenteils in kompakten dörflichen Siedlungen. Mit Ausnahme von drei Städten und fünf Arbeitersiedlungen waren alle anderen über 440 in der ASSR der Wolgadeutschen bestehenden Ortschaften dörflichen Typs: Dörfer einschließlich früherer Kolonien, Siedlungen der Sowchosen und Maschinen-Traktoren-Stationen und Gehöftsiedlungen. Nach Stand zum 1. Januar 1941 gab es in der Republik der Wolgadeutschen 22 Kantone sowie die Stadt Engels und die Arbeitersiedlung Krasnyj Tekstilschtschik als eigenständige Gebietskörperschaften (siehe Tabelle 2).
Tabelle 2. Verwaltungsgliederung der Republik der Wolgadeutschen
(nach Stand zum 1. Januar 1941)
Verwaltungseinheit |
Fläche (in Tausend km²) |
Bevölkerung (in Tausend) |
Bevölkerungsdichte (Einwohner pro km²) |
Anteil der deutschen Bevölkerung (in Prozent) |
- |
73,2 |
- |
12,0 |
|
- |
5,1 |
- |
9,0 |
|
1,4 |
46,6 |
34,1 |
84,9 |
|
1,5 |
15,5 |
10,0 |
66,3 |
|
1,7 |
20,3 |
11,2 |
51,0 |
|
1,3 |
26,3 |
21,0 |
97,5 |
|
0,9 |
14,6 |
17.0 |
2,2 |
|
1,7 |
30,5 |
18,4 |
87,5 |
|
0,9 |
11,5 |
12,7 |
16,0 |
|
0,9 |
18,4 |
21,0 |
98,5 |
|
1,8 |
41,2 |
22,6 |
46,4 |
|
0,9 |
22,8 |
29,3 |
98,6 |
|
1,1 |
25,1 |
23,7 |
98,4 |
|
1,1 |
18,9 |
18,0 |
74,6 |
|
1,4 |
28,9 |
19,1 |
95,5 |
|
1,1 |
40,6 |
37,0 |
95,5 |
|
2,3 |
18,4 |
8,0 |
51,5 |
|
1,4 |
13,7 |
10,0 |
13,7 |
|
1,2 |
17,9 |
15,0 |
15,0 |
|
1,2 |
32,8 |
27,0 |
98,6 |
|
1,4 |
21,0 |
16,4 |
8,4 |
|
1,1 |
29,5 |
29,3 |
98,6 |
|
1,5 |
20,9 |
13,9 |
54,2 |
|
0,6 |
12,0 |
21,5 |
95,5 |
|
ASSR der Wolgadeutschen |
28,4 |
605,6 |
21,3 |
60,5 |
Größe und Einwohnerzahl der in der Republik der Wolgadeutschen gelegenen Dörfer variierten je nach Umweltbedingungen sowie Ausrichtung und Intensität der Landwirtschaft stark. Laut Volkszählung von 1939 hatten gerade einmal zehn der in der Republik der Wolgadeutschen gelegenen Dörfer über 3.000 und sechs Dörfer 2.000-3.000 Einwohner. Der größte Teil der Dörfer hatte 1.000-2.000 Einwohner (bis 1914 und sogar noch Mitte der 1920er Jahre hatte die Zahl der über 2.000 Einwohner zählenden Dörfer deutlich höher gelegen). Nichtsdestotrotz gab es in der Republik auch einzelne dörfliche Agglomerationen. So lagen am linken Wolgaufer auf einer Länge von 45 km nördlich von Marxstadt bis zum Grenzdorf Schaffhausen 18 größere Dörfer, zwischen denen maximal 1-2 Kilometer Abstand lagen. Eine zweite dörfliche Agglomerationen zog sich am Fluss Karaman entlang, wo auf einer Länge von 40 km zwischen Ust-Karaman und Mariental zwölf große Dörfer lagen. Darüber hinaus gab es noch einige weniger dichte Agglomerationen am zentralen linken Ufer der Wolga, entlang dem Fluss Jeruslan und im südlichen Teil des rechten Wolgaufers. Noch in den 1920er Jahren lebte fast ein Drittel der ländlichen Bevölkerung der Republik der Wolgadeutschen in einer Vielzahl kleiner Gehöfte, die allerdings im Zuge der Kollektivierung allesamt aufgelöst wurden.
Relativ viele der in der Republik der Wolgadeutschen gelegenen Ortschaften erfüllten die Funktion lokaler Zentren. Dabei handelte es sich in der Regel um größere, agrarindustriell geprägte ländliche Ortschaften, in erster Linie 20 der 22 Verwaltungszentren der Kantone (die beiden übrigen waren Städte), die für die anderen in ihren Kantonen gelegenen Siedlungen Verwaltungs-, Kultur- und Handelszentren darstellten.
Angesichts des niederschlagsarmen Klimas lagen die meisten der auf den Gebiet der Republik der Wolgadeutschen gelegenen Ortschaften in der Nähe von Flüssen oder Erosionshängen. Eine Ausnahme stellten die Mitte des 19. Jahrhunderts von Mennoniten auf dem rechten Ufer des Saratower Wolgagebiets gegründeten Dörfer dar, die mitten in der kargen Steppe lagen, wo das Grundwasser so oberflächennah war, dass man Brunnen graben konnte.
Es gab verschiedene typische Dorfgrundrisse. Am weitesten verbreitet waren lineare (zwei- und vielzeilige), radiale und Blockdörfer. Das architektonische Erscheinungsbild der deutschen Dörfer (bzw. früheren Kolonien) unterschied sich praktisch in allen Belangen stark von den Dörfern, Vorwerken und Vorstädten der anderen Völker – von der Siedlungsstruktur bis zum Dekor der einzelnen Bauten, was dadurch zu erklären ist, dass die Kolonien ursprünglich nach eigens ausgearbeiteten Plänen unter Berücksichtigung der Besonderheiten vergleichbarer Siedlungen in der alten Heimat der deutschen Übersiedler gebaut worden waren. Zugleich hatten die benachbarten russischen und ukrainischen Dörfer sich vieles bei ihren deutschen Nachbarn abgeschaut (bereits in den 1840er Jahren hatte das Innenministerium Russlands beschlossen, im Gouvernement Saratow „Bauernhäuser und Scheunen in deutscher Weise“ zu bauen, da diese als komfortabler, solider und praktischer galten). Hauptzier der meisten deutschen Dörfer waren die katholischen oder evangelisch-lutherischen Kirchen, die sich architektonisch stark von den orthodoxen Gotteshäusern unterschieden.
In den Jahren der Sowjetmacht wurden die nationalen Besonderheiten des architektonischen Erscheinungsbilds vieler Dörfer zerstört und gesichtslose Einheitsgebäude errichtet, was durch die entsprechende staatliche Politik, Armut und Mangel an Mitteln und Material bedingt war.
Die drei Arbeitersiedlungen Krasnyj Kut, Gmelinka und Pallasowka waren vor allem durch die in diesen gelegenen wichtigen Eisenbahnstationen geprägt. In der Arbeitersiedlung Seelman (heute: Rownoje) waren Schiffsreparaturwerkstätten angesiedelt, in denen ein erheblicher Teil der erwachsenen männlichen Bevölkerung arbeitete. In der 1930 an die Republik der Wolgadeutschen angeschlossenen Siedlung Krasnyj Tektilschtschik war das größte Spinnwerk der Region „Samojlow“ angesiedelt, das die in der Republik der Wolgadeutschen ansässigen Textilunternehmen mit Garn versorgte. In dem Werk arbeitete die gesamte männliche Bevölkerung der Siedlung.
In der Republik der Wolgadeutschen gab es drei Städte. Engels (Pokrowsk) wurde im Jahr 1749 als Pokrowskaja Sloboda von ukrainischen Siedlern gegründet, die Salz vom Elton- und vom Baskuntschaksee nach Zentralrussland transportierten. 1922 wurde Pokrowsk nach der „Abrundung“ des Territoriums der deutschen Autonomie zu deren Verwaltungszentrum und ab 1924 zur Hauptstadt der ASSR der Wolgadeutschen. Marxstadt (1766-1914 Katharinenstadt und zugleich Baronsk, 1914-1919 Jekaterinograd, seit 1942 Marx) und Balzer (bis 1926 zugleich Golyj Karamysch, seit 1942 Krasnoarmejsk) waren frühere deutsche Kolonien, die 1766 bzw. 1764 gegründet wurden und 1918 infolge ihrer schnellen Entwicklung und des Bevölkerungswachstums den Status von Städten erhielten.
Tabelle 3. Bevölkerungszahl der Städte der Republik der Wolgadeutschen
Stadt |
Einwohner (in Tausend) |
|
|
|
1926 |
||||
Engels |
34,3 |
|||
Marxstadt |
12,4 |
|||
Balzer |
12,2 |
Der weitgehend agrarische Charakter der Wirtschaft der deutschen Autonomie prägte auch deren Städte. Alle drei in der Republik der Wolgadeutschen gelegenen Städte waren relativ klein und erinnerten eher an große Dörfer. Angesichts der Entscheidung der Sowjetregierung und des ZK der WKP(b), das Sawolschje-Gebiet durch den Bau der Kamyschin-Talsperre zu bewässern, deren Bau einen großen Teil der Stadt Engels geflutet hätte, wies der Rat der Volkskommissare der RSFSR den Rat der Volkskommissare der Republik der Wolgadeutschen am 13. Juli 1932 an, vorübergehend alle kommunalen Bauprojekte in der Stadt mit Ausnahme der Kanalisation einzustellen. Infolge dieses Beschlusses wurde von Jahr zu Jahr weniger in die Stadtentwicklung investiert, so dass die Kommunal- und Wohnwirtschaft weit hinter dem Wachstum sowohl der Volkswirtschaft der Republik der Wolgadeutschen als auch der Bevölkerung der Stadt zurückblieb. Auch wenn die Entscheidung zum Bau der Kamyschin-Talsperre bereits 1934 wieder auf Eis gelegt wurde, gingen die Investitionen in den Wohnungsbau und die kommunale Versorgung dennoch immer weiter zurück. Infolge des extremen Mangels an Wohnraum für Arbeiter und Angestellte (4,1 m² pro Kopf 1926, 2,7 m² 1935) war in allen Bereichen von Wirtschaft und Kultur eine hohe Fluktuation der Kader und vor allem der hochqualifizierten Spezialisten zu verzeichnen. Aufgrund der kärglichen Mittelzuweisungen zog sich der Bau des Wasserleitungsnetzes in Engels über zwei Fünfjahrespläne hin. 1936 waren von den 111 Straßenkilometern der Stadt lediglich 10,5 km an die Wasserversorgung angeschlossen. Es gab keine Kanalisation. Im Frühjahr und Herbst versank das auf sumpfigem Grund gelegene Engels regelmäßig im Matsch, da es nur wenige gepflasterte Straßen und Bürgersteige gab. Von 1934 an gab es in Engels öffentlichen Nahverkehr: Es fuhren fünf Busse (1937 zehn). In den Jahren 1938-41 wurden in Engels einige mehrstöckige Häuser gebaut, darunter die Schule, ein Hotel und der Palast der Pioniere. Die Länge des Wasserleitungsnetzes erreichte 25 km, der Buspark wuchs auf 30 Fahrzeuge, die Gesamtlänge aller gepflasterten Straßen betrug 25,6 km (17,4 % aller Straßen). Die zentralen Plätze und die Bürgersteige der angrenzenden Straßen wurden asphaltiert (43.000 m²). 28 Straßenkilometer waren beleuchtet (19% der Gesamtlänge aller Straßen). Im Stadtzentrum wurde am Ufer der Wolga ein Kultur- und Erholungspark eröffnet. Eine Kanalisation wurde auch weiterhin nicht gebaut. Am Vorabend des Krieges bestätigte die Regierung der RSFSR das Projekt, die Stadt Engels im Bereich der 12 Kilometer südlich des historischen Stadtkerns gelegenen Bahnstation Anisowka als „sozialistische Stadt“ komplett neu zu errichten. An diesem Ort, wo sich bereits ein Fleischkombinat befand, sollten im dritten Fünfjahresplan mehrere weitere industrielle Großprojekte gebaut werden (Heizkraftwerk, Fabriken für Galvanikanlagen, Anlagen für die chemische Industrie usw.). Aber der Plan konnte nicht umgesetzt werden. In den beiden anderen Städten (Marxstadt und Balzer) gab es weder Wasserleitung noch Kanalisation, befestigte Straßen und öffentlichen Nahverkehr. Es gab praktisch keinen staatlichen Wohnungsbau. Auf einen Einwohner kamen 3,5-4 m² Wohnraum. 57,8% (in Marxstadt) bzw. 28,9% (in Balzer) der städtischen Straßen waren beleuchtet.
Allgemeine Angaben: Die ASSR der Wolgadeutschen hatte 572.000 (1926) bzw. 606.000 (1941) Einwohner. Während der Hungersnöte der Jahre 1921-23 bzw. 1932/33 brach die Bevölkerungszahl zweimal infolge einer hohen Todesrate bzw. der Flucht der Bevölkerung ein (siehe Diagramm). Die durchschnittliche Bevölkerungsdichte lag bei 21,3 Personen pro km². Allerdings war die Bevölkerung nicht gleichmäßig über das Territorium der Republik verteilt. Am dichtesten besiedelt waren die Kantone Balzer, Krasnyj Jar, Marxstadt und Frank, wo die Bevölkerungsdichte bei etwa 30 Einwohnern pro km² lag, während die Kantone Gnadenflur, Pallasowka und Staraja Poltawka mit 8-10 Einwohnern pro km² eher dünn besiedelt waren. Der Hauptsiedlungsstreifen zog sich an beiden Ufern der Wolga entlang.
Entwicklung der Bevölkerungszahlen auf dem Gebiet der Republik der Wolgadeutschen in den Jahren 1914-41
(in Tausend Einwohnern)
Nationale Zusammensetzung: Die zahlenmäßig größte ethnische Gruppe der Republik der Wolgadeutschen waren die Deutschen, die laut Volkszählung von 1926 mit 379.300 Einwohnern 66,3% der Gesamtbevölkerung stellten. Innerhalb der folgenden 15 Jahre sank der Anteil der Deutschen in der Republik um 5,8 Prozentpunkte: 1941 stellten die Deutschen mit 366.400 Einwohnern noch 60,5% der Bevölkerung. 13 der 22 Kantone hatten einen deutschen Bevölkerungsanteil von über 70%: Balzer, Gmelinka, Seelmann, Kamenka, Krasnyj Jar, Kukkus, Lysanderhöh, Mariental, Marxstadt, Unterwalden, Frank und Erlenbach. Die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe stellten mit 115.500 (20,2%/ 1926) bzw. 156.000 (25,7%/ 1941) Einwohnern die Russen, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung in den Jahren 1926-41 um 5,5 Prozentpunkte stieg. Rein russisch waren die Kantone Solotoje, Ilowatka, Staraja Poltawka und Fjodorowka. Im Kanton Ternowka stellten Russen ebenfalls die Bevölkerungsmehrheit. In vier Kantonen (Gnadenflur, Krasnyj Kut, Pallasowka, Eckheim) waren Deutsche und Russen nahezu gleich stark vertreten. Die dritte in der ASSR der Wolgadeutschen lebende ethnische Gruppe stellten die Ukrainer mit 69.000 Einwohnern im Jahr 1926 (12%) und 58.200 Einwohnern im Jahr 1941 (9,5%) dar. Darüber hinaus lebten in der Republik der Wolgadeutschen Kasachen, Mordwinen, Tataren, Juden, Weißrussen und andere: 8.000 Einwohner (1,5%) 1926 und 25.600 Einwohner (4,3%) 1941.
Ein Großteil der Deutschen lebte auf dem Land. 37,2% der Russen lebten in den Städten, vor allem in Engels, die übrigen auf dem Dorf. Ukrainer lebten vor allem in Engels (28,6%) sowie in einer Reihe von Dörfern des Kantons Ternowka. Es gab einzelne tatarische, mordwinische, kasachische und estnische Dörfer und Gehöfte. Weißrussen und Juden lebten größtenteils in den Städten.
Die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung der Republik der Wolgadeutschen spiegelte den agrarischen Charakter ihrer Wirtschaft: 527.200 Einwohner (87%) waren Bauern (1941), 32.200 (5,3%) Arbeiter, 46.600 (7,7%) Angehörige der Intelligenz und Angestellte. Die Arbeiter waren in Engels, Balzer, Marxstadt, Krasnyj Kut sowie in einigen Kantonszentren konzentriert, wo sie vor allem in kleineren Betrieben mit Werkstattcharakter tätig waren. Die nach der Zahl ihrer Arbeiter größten Unternehmen der ASSR der Wolgadeutschen waren das in der Siedlung Krasnyj Tekstilschtschik ansässige Spinnwerk „Samojlow“ (1.900 Beschäftigte), die Karl-Liebknecht-Weberei in Balzer (1.400 Beschäftigte), das Motorenwerk „Kommunist“ in Marxstadt (920 Beschäftigte), die Strumpf- und Trikotagefabrik „Klara Zetkin“ in Balzer (1.120 Beschäftigte) und das Fleischkombinat in Engels (920 Beschäftigte). 2/3 der Intelligenzangehörigen und Angestellten entfielen auf Funktionäre des Partei- und Staatsapparats und Führungskader der Wirtschaft. Das verbleibende Drittel stellten vor allem Lehrer und Dozenten der Hochschulen und Fachoberschulen, Mitarbeiter kultureller Einrichtungen und Ärzte.
Demographische Zusammensetzung: Laut Volkszählung von 1926 lebten in der Republik 274.300 Männer und 297.500 Frauen. Bis 1939 ging dieser Frauenüberschuss von 23.200 auf nur noch 6.800 Personen zurück. Auf 306.700 Frauen kamen 299.900 Männer. Die annähernd gleiche Zahl von Männern und Frauen in der deutschen Autonomie zeugt davon, dass der Krieg keinen starken Einfluss auf die Bevölkerungsentwicklung der Republik gehabt hatte, während der Bevölkerungsrückgang vor allem durch die Hungersnöte begingt war, von denen Männer und Frauen in gleicher Weise betroffen waren. Das Geschlechterverhältnis war bei allen ethnischen Gruppen in etwa gleich (siehe Tabelle 4).
Tabelle 4. Geschlechterverhältnis in der Republik der Wolgadeutschen bei Deutschen, Russen und Ukrainern (laut Volkszählung von 1926)
Ethnische Gruppen |
Zahl der Männer |
Zahl der Frauen |
Verhältnis |
Deutsche Russen Ukrainer |
172.220 82.311 28.991 |
194.465 73.716 29.257 |
0,9 : 1 1,1 : 1 1 : 1 |
Angaben zur Alterszusammensetzung der Bevölkerung der Republik der Wolgadeutschen sind nur in den Materialien der Volkszählung von 1926 enthalten. Zu diesem Zeitpunkt stellten Kinder im Alter bis 15 Jahren 38,5%, Personen im arbeitsfähigen Alter 56,4% und alte Leute gerade einmal 5,1% der Bevölkerung (siehe Tabelle 5). Der geringe Anteil älterer Menschen zeugt von den schwierigen Arbeits- und Lebensbedingungen. Anzumerken ist auch ein hoher Anteil von Verheirateten unter den Personen im arbeitsfähigen Alter (30-50 Jahre): Fast alle Männer und 4/5 der Frauen waren verheiratet, was sich durch die recht strengen Moralvorstellungen jener Zeit und die in der Bevölkerung verbreitete Religiösität erklären lässt.
Tabelle 5: Alterszusammensetzung der Bevölkerung der Republik der Wolgadeutschen (laut Volkszählung von 1926)
Alter |
Männer |
Frauen |
insgesamt |
Anteil der Verheirateten |
||||
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|
absolut |
% |
Männer |
Frauen |
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unter 15 15 – 19 20 – 29 30 – 39 40 – 49 50 – 59 60 – 69 über 70 |
110699 36713 49183 29124 20983 15267 8616 3211 |
109359 37522 57147 34000 23920 19086 11427 4770 |
220058 74235 106330 63124 44903 34353 20043 7981 |
38,5 13,0 18,6 11,0 7,8 6,0 3,5 1,6 |
- 3,6 69,7 96,0 96,0 92,3 80,2 54,6 |
- 8,6 72,9 83,2 73.0 55,1 42,3 19,4
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Die Volkswirtschaft der ASSR der Wolgadeutschen war traditionell stark agrarisch geprägt. Ein Großteil der Bevölkerung war in Ackerbau und Viehzucht beschäftigt. Die Republik konnte auf eine langjährige Tradition hoch entwickelter landwirtschaftlicher Produktion zurückblicken: 1914 betrug die Bruttoernte auf dem Gebiet der künftigen Republik der Wolgadeutschen bei einem durchschnittlichen Ernteertrag von 3,65 Doppelzentnern pro Hektar bei Getreidekulturen insgesamt 473.000 Tonnen und bei Weizen 354.400 Tonnen; es gab 227.800 Arbeitstiere (Pferde, Ochsen, Kamele), 106.100 Kühe, 456.000 Schafe und Ziegen sowie 108.000 Schweine. Vor der Revolution gehörte das Gebiet der späteren Wolgarepublik zu den produktivsten der gesamten Wolgaregion. In den Kolonien wurde vor allem Hartweizen angebaut, dessen Produktion komplizierte Anbaumethoden und erhebliche Anstrengungen von Seiten der Erzeuger erforderte, die durch zahlreiche Vorteile gerechtfertigt waren. Auf 75% der Saatfläche wurde in der Regel für den Export bestimmter Weizen, auf 13% anspruchsloser Roggen und auf den übrigen 12% vor allem Hirse, Hafer und Gerste angebaut. An Industriepflanzen wurden vor allem Sonnenblumen, Zuckerrüben und Tabak angebaut. Die zur Zeit des „Kriegskommunismus“ betriebene Politik der Getreidebeschlagnahmungen und die durch diese provozierte Hungersnot fügten der Landwirtschaft des Gebiets der Wolgadeutschen erheblichen Schaden zu. Es reicht zu sagen, dass 1923 lediglich 40% der Saatflächen bestellt und 78.400 Tonnen Getreide geerntet wurden. Ähnliche Tendenzen waren auch in der Viehzucht zu verzeichnen. In den Jahren des Bürgerkriegs wurde vor allem die Pferdezucht stark in Mitleidenschaft gezogen. 1923 gab gerade noch 50.400 Arbeitstiere (vor allem Pferde), 70.300 Kühe, 181.000 Schafe und Ziegen und 29.000 Schweine.
Im ersten Jahr ihres Bestehens wurde die Republik der Wolgadeutschen von einer schweren Dürre und Missernten heimgesucht. Noch unter dem Eindruck der gerade erst überwundenen Hungersnot ergriff die Führung der UdSSR Maßnahmen, um den Hungernden einschließlich der Wolgadeutschen Lebensmittelhilfe zu leisten, die allerdings angesichts des Klassenansatzes bei deren Verteilung und des Verbots, humanitäre Hilfe aus dem Ausland anzunehmen, nicht verhindern konnte, dass es in einigen Kantonen und Dörfern erneut zu Hunger kam. Besonders hatten die „Kulaken“ zu leiden - die Schicht der besonders aktiven und arbeitsamen Bauern, die in den vorangegangenen anderthalb Jahren ökonomisch wieder auf die Beine gekommen waren. So konnte sich die Neue Ökonomische Politik in der Republik der Wolgadeutschen 1924 nicht wirklich entfalten. Erst in den Jahren 1925-28, die auch durch gutes Wetter begünstigt relativ hohe Ernteerträge brachten, trug die NEP in der Volkswirtschaft der ASSR der Wolgadeutschen erste Früchte. 1928 wurden 687.100 Tonnen Getreide (davon 417.000 Tonnen Weizen) geerntet. Zu dieser Zeit hatte sich die Struktur der Getreideaussaat bereits erheblich geändert. Weizen wurde nur noch auf etwas mehr als der Hälfte der Saatflächen angebaut, während der Roggenanteil auf 30% gestiegen war. Zudem hatte sich auch die Qualität des Weizens seit der Revolution deutlich verschlechtert, da das gesamte Selektionssystem Anfang der 1920er Jahre zusammengebrochen war und praktisch alles ausgesät wurde, was irgendwie zugänglich war. Im Zuge der NEP kehrten Marktelemente in die Wirtschaft zurück, fanden verschiedene Formen von Kooperativen Verbreitung und gesundete das gesamte System der Ware-Geld-Beziehungen, was die Getreideproduktion Ende der 1920er Jahre wieder ansteigen ließ. 1929 erreichte die Landwirtschaft fast wieder das Vorkriegsniveau, auch wenn ökonomisch nicht gerechtfertigte strukturelle Veränderungen Qualität und Wert der Getreideproduktion erheblich absinken ließen und zu einem ständigen Mangel an Arbeitsvieh führten. Ende der 1920er Jahre gelang im Großen und Ganzen auch der Wiederaufbau der Viehzucht, auch wenn die Zahl des Arbeitsviehs nur noch bei ¾ des Vorkriegsniveaus lag. Diese Verluste wurden in gewissem Umfang durch den Einsatz erster Traktoren kompensiert, die die Republik der Wolgadeutschen dank erfolgreicher Handelsoperationen aus dem Ausland bezog.
Die Entwicklung des Dorfes wurde durch „klassenpolitische“ Ansätze gebremst. Aus Sorge, die „Kulaken“ zu stärken, benachteiligte und begrenzte das bolschewistische Regime die großen Bauernwirtschaften, ohne allerdings die in die Armenwirtschaften investierten erheblichen Mittel effektiv einzusetzen. Die Ende der 1920er Jahre auch in der Republik der Wolgadeutschen zu verzeichnende „Getreidekrise“ nahm die Stalinsche Gruppe zum Anlass, zu Methoden des kriegskommunistischen Wirtschaftens im Dorf zurückzukehren. Dieser neue „Extremismus“ erreichte die Dörfer der Autonomen Republik Ende 1927 und wurde mit äußerster Härte umgesetzt. Über alle deutschen Dörfer rollte eine Repressionswelle, die die Voraussetzungen für den Übergang zur durchgängigen Kollektivierung schaffen sollte, die im Herbst 1929 einsetzte und Mitte 1931 abgeschlossen wurde. Die mit beispielloser Gewalt und Willkür einhergehende Kampagne provozierte Massenproteste und Antikolchosaufstände, die mit aller Härte niedergeschlagen wurden. Im Zuge der „Entkulakisierung“ wurden über 25.000 Personen aus der ASSR der Wolgadeutschen verbannt, Hunderte verhaftet und repressiert. Die Kollektivierung fügte der Landwirtschaft einen ungeheuren Schaden zu. Tausende der produktivsten Bauernwirtschaften wurden dem Erdboden gleichgemacht, der Viehbestand wurde mehr als halbiert und sank faktisch noch unter das Niveau von 1923 (es blieben 40.000 Arbeitstiere, 123.000 Kühe, 113.000 Schafe und Ziegen). Lediglich der Schweinebestand stieg auf 51.000 Tiere. Die gerade erst gegründeten Kolchosen waren nicht in der Lage, die Verluste zu kompensieren. Auf ständigen Druck von oben weiteten die Kolchosen ihre Saatflächen aus (von 1.126.300 Hektar im Jahr 1929 auf 1.452.900 Hektar im Jahr 1932), was die Propaganda als großen Erfolg der Kolchosordnung darstellte. Allerdings spiegelte dieser rein extensive Indikator nicht wirklich die Realität wieder: Die Bruttoernteerträge lagen bei 532.100 (1930), 672.100 (1931), 251.600 (1932) und 507.500 Tonnen (1933). Die durchgängige Kollektivierung und andere dem sozialistischen Umbau der Landwirtschaft dienende Maßnahmen führten in der Republik der Wolgadeutschen zu keinerlei quantitativen oder qualitativen Sprüngen bei der Getreideproduktion, die auf ihrem früheren Niveau stagnierte und auch weiterhin von den Launen des Wetters abhängig war, was allerdings in der staatlichen Getreidebeschaffungspolitik keinerlei Berücksichtigung fand, so dass der Staat unabhängig von den tatsächlichen Ernteerträgen unablässig Lebensmittel aus den Dörfern herauspresste. De facto fanden in der Republik der Wolgadeutschen in den Jahren 1930-32 erneut Lebensmittelbeschlagnahmungen statt, die mit einer himmelschreienden Missachtung der Interessen und Rechte der Bevölkerung einhergingen – einschließlich des Rechts auf Leben. Besonders grausame Formen nahm diese Politik im Herbst 1932 an, als die Abgabenormen ungeachtet einer durch Dürre bedingten Missernte nicht angepasst wurden und praktisch die gesamte Ernte bei den Bauern beschlagnahmt wurde, die in der Folge ihre Existenzgrundlage verloren. So kam es erneut zu einer Hungernot, die ihren Höhepunkt im Winter und Frühjahr 1933 erreichte und unter der in der Wolgaregion ansässigen deutschen Bevölkerung über 55.000 Opfer forderte– größtenteils Leute, die in die Mühlsteine der Stalinschen Kampagnen der Kollektivierung, Entkulakisierung, Getreidebeschaffung usw. gerieten. Über 100.000 Personen verließen die Autonome Republik auf der Flucht vor dem Hunger. Kollektivierung und Hunger wurden 1932/33 zu einem weiteren schweren Schlag gegen die Landwirtschaft der Republik der Wolgadeutschen.
Erschrocken von Umfang und Folgen des Hungers und dem durch diesen in der Weltöffentlichkeit hervorgerufenen Echo begann die Stalinsche Führung der UdSSR 1934, den Druck auf das Dorf abzuschwächen. Die Abgabenormen wurden gesenkt und in die Entwicklung der Kolchosen investiert, was das Dorf wieder gesunden ließ. Die einsetzende Stärkung der Kolchosen ließ die landwirtschaftliche Produktion wieder steigen, was insbesondere in den unmittelbaren Vorkriegsjahren zu spüren war. 1937 und 1940 gab es mit 1.170.700 bzw. 1.186.900 Tonnen Getreide Rekordernten. Der durchschnittliche Ernteertrag lag bei über zehn Doppelzentnern pro Hektar. Nichtsdestotrotz ließ sich das landwirtschaftliche Produktionsniveau von 1928 oder gar 1914 nicht erreichen. Die Viehzucht wurde nur langsam wiederaufgebaut. Im Januar 1941 gab es weniger als 43.000 Arbeitstiere, 170.000 Kühe, 89.100 Schweine und 350.200 Schafe und Ziegen. 87,3% der Arbeitstiere befanden sich in den Kolchosen, während fast die Hälfte des sonstigen Viehs den Kolchosbauern persönlich gehörte und in Nebenerwerbswirtschaften gehalten wurde. Auch dies war ein wesentlicher Indikator dafür, dass sich die Lage der Bauern zu stabilisieren begann. Allmählich verbesserte sich in der Republik der Wolgadeutschen auch die technische Ausstattung der Landwirtschaft: Zum 1. Januar 1940 gab es in 69 Maschinen-Traktoren-Stationen 5.822 Traktoren, 1.911 Mähdrescher und 494 Automobile. In den Kolchosen und Sowchosen gab es 842 Automobile.
In den rechtsufrigen deutschen Dörfern spielten neben der Landwirtschaft auch Handwerke und insbesondere die Herstellung von Sarpinka-Gewebe eine wichtige Rolle (die Ursprünge dieses Gewerbes lagen außerhalb der Grenzen der Republik die Wolga herunter im Dorf Sarepta). Aber bereits Anfang der 1930er Jahre wurde im Zusammenhang mit der beginnenden durchgängigen Kollektivierung das unter häuslichen Bedingungen betriebene Webgewerbe verboten, so dass lediglich in jenen Dörfern, in denen es kleine Unternehmen der Leichtindustrie gab, ein Teil der Bevölkerung diesem Gewerbe nachging (so waren z.B. im Dorf Kratzke fast 700 ortsansässige Arbeiter in der Weberei „Fortschritt“ beschäftigt). In den in der Umgebung von Marxstadt auf dem linken Ufer gelegenen deutschen Dörfern gab es Werkstätten zur Produktion von Leder, Lederprodukten, Pferdegeschirr, Tabakpfeifen usw. Die Bewohner der ufernahen russischen Dörfer des Kantons Solotoje waren in Fischfangkolchosen zusammengeschlossen und im Fischgewerbe tätig. In den 1930er Jahren entstanden im Zuge der Industrialisierung in einigen Dörfern Unternehmen der Nahrungsmittel- und Maschinenbauindustrie (Konservenfabrik in Hussenbach, Werkzeugmaschinenfabrik „Rekord“ in Grimm usw.). Auf diese Weise wurden einige in der Republik der Russlanddeutschen gelegene Dörfer nach ihrer funktionellen Klassifikation zu gemischten agrarisch-industriellen Ortschaften gezählt.
1941 war die Landwirtschaft in der Republik der Wolgadeutschen nahezu ausschließlich auf Getreideanbau und Viehzucht ausgerichtet; innerhalb der Getreidewirtschaft dominierte die Produktion von Sommerweizen, in der Viehwirtschaft eine Fleisch-Milch- und Fleisch-Wolle-Ausrichtung. Hinsichtlich der Entwicklung der Milchwirtschaft war die Republik der Wolgadeutschen in der gesamten Region Untere Wolga führend. Eine jährliche Melkleistung von 3.000 Litern und mehr pro Kuh war keine Ausnahme. Wichtigste Rinderart war die holländische Rassekuh. Zur gleichen Zeit gelang es bei einer ganzen Reihe von Indikatoren nicht, das landwirtschaftliche Entwicklungsniveau der Zeit vor der Revolution zu erreichen.
Hinsichtlich der Einführung neuer Agrartechnik nahm die Republik der Wolgadeutschen innerhalb der Sowjetunion einen Spitzenplatz ein. Auf den Feldern waren 20.000 qualifizierte Arbeiter und Techniker beschäftigt, darunter bis zu 2.500 Mähdrescherfahrer. Im Durchschnitt kamen auf eine Kolchose bis zu 50 qualifizierte Spezialisten, was einen der höchsten Werte in der Sowjetunion darstellte.
In den Jahren 1938-41 bestand in der Republik der Wolgadeutschen das zentralisierte staatliche System der Lebensmittelbeschaffung weiter. Es gab konkrete Abgabenormen für die Erzeugnisse der Kolchosen, Sowchosen, Kolchos- und Einzelbauern. Und auch wenn dieses Beschaffungssystem nach der Hungersnot von 1932-33 abgemildert wurde, blieben in der Republik der Wolgadeutschen praktisch nie Lebensmittelüberschüsse, so dass ständig neuer Hunger drohte. Unmittelbar vor dem Krieg wurde in der Sowjetunion die Landwirtschaftspolitik verschärft. Vielen Bauern wurde sogenanntes überschüssiges Land abgenommen. Die von den Kolchosen und Kolchosbauern zu erfüllenden Abgabenormen wurden spürbar erhöht.
So war die Landwirtschaft der Republik der Wolgadeutschen auch in den unmittelbaren Vorkriegsjahren durch widersprüchliche Tendenzen geprägt. Einerseits war die Führung sowohl im Zentrum als auch in der Republik der Wolgadeutschen gezwungen, ökonomische Anreize zu setzen und die Bekämpfung der natürlichen, aber vom Standpunkt der herrschenden Ordnung illegalen Marktmechanismen abzuschwächen, andererseits setzte die bolschewistische Führung gegenüber der Bauernschaft (Kolchos- und Einzelbauern) auch weiterhin auf administrativen Druck und Willkürmaßnahmen.
Die Industrie war auf dem Gebiet der Republik der Wolgadeutschen traditionell schwach entwickelt und hatte vor allem lokale Bedeutung. Die einzige Branche, deren Erzeugnisse weit über die Grenzen der Region hinaus nachgefragt wurden, war die Produktion von Sarpinka-Gewebe, die vor allem in häuslichen Kleinbetrieben stattfand. Anfang des 20. Jahrhunderts waren etwa 12.000 kleingewerbliche Weber in diesem Bereich tätig. 1901 wurde in Balzer eine neue Textilfabrik gebaut. Ein bekanntes Unternehmen war vor der Revolution von 1917 die Landmaschinenfabrik Schäfer in Katharinenstadt (später in „Kommunist“ umbenannt), deren sowohl in Russland als auch im Ausland bekanntestes Produkt die Kornschwinge „Kolonistka“ war.
Der Bürgerkrieg und die Hungersnot von 1921-22 fügten der Industrie großen Schaden zu, die vor allem landwirtschaftliche Erzeugnisse verarbeitete und deshalb fast vollständig von den Erfolgen der Landwirtschaft abhängig war. In den Jahren 1924-28 begann der Wiederaufbau der Industrie der Republik, dessen Tempo allerdings deutlich hinter dem gesamtsowjetischen Durchschnittsniveau blieb. Weder die staatliche noch die genossenschaftlich organisierte Industrie konnte den Markt mit Waren des täglichen Bedarfs sättigen. Ende der 1920er Jahre hatte die Industrie immer noch nicht wieder das Vorkriegsniveau erreicht.
In den 1920er Jahren konnte die Republik der Wolgadeutschen recht fruchtbare ökonomische, politische und kulturelle Verbindungen ins Ausland und insbesondere nach Deutschland und in die USA aufbauen, die vor allem auf die wirtschaftliche Entwicklung der Wolgarepublik positiv auswirkten. Aber die zentralen Machtorgane, die eine solche Zusammenarbeit ohnehin nur aus Überlegungen der politischen Opportunität tolerierten, verfolgten eifersüchtig alle diesbezüglichen Aktivitäten der Führung der ASSR der Wolgadeutschen, da sie darin einen Anschlag auf ihre Vorrechte im Außenhandel sahen. Ende der 1920er Jahre wurden alle Auslandskontakte der Republik auf Druck von Moskau unterbunden. Vollständig gestoppt wurde die ohnehin recht geringe Rückkehr von Emigranten in die Wolgaregion, für die bewusst ungünstige Bedingungen festgesetzt wurden.
Auch wenn die forcierte Industrialisierung der ersten beiden Fünfjahrespläne (1929-32, 1933-37) die Republik der Wolgadeutschen nur am Rande berührte, änderte sich die industrielle Landschaft der Republik doch beträchtlich. Im Zeitraum 1932-1940 stieg die Bruttoproduktion bei einer Gesamtzahl von etwa 20.000 Arbeitern (inflationsbereinigt) von etwa 40 Mio. auf 185,6 Mio. Rubel. In Hussenbach wurde eine Konservenfabrik mit einer Produktionsleistung von 21 Mio. Gemüsekonserven pro Jahr gebaut. In Wiesenmiller wurde eine Käserei mit einer Produktionsleistung von 125 Tonnen Butter und 290 Tonnen Käse pro Jahr in Betrieb genommen. In Marxstadt produzierte die neue Marxstädter Machorkafabrik pro Jahr 350.000 Kisten Machorka. In Engels wurde eine Ziegelei gebaut, die pro Jahr 20 Mio. Ziegel und 3,5 Mio. Dachziegel produzierte. In Engels produzierte die Leimfabrik nach radikalem Umbau 3.200 Tonnen Trocken- und 800 Tonnen Flüssigleim sowie Knochenmehl. In der Hauptstadt der Republik der Wolgadeutschen entstanden zudem eine neue Brotfabrik mit einer Produktionsleistung von 35,6 Tonnen Brot pro Tag und eine neue Druckerei. Die Schinkenfabrik in Engels weitete ihre Produktion erheblich aus. Neu aufgebaut wurde die Milch- und Tomatenindustrie. 1932 gab es 89 Betriebe, die insgesamt 16.000 Tonnen Milch verarbeiteten (1914 hatten neun Milchbetriebe 650 Tonnen Milch verarbeitet). Das größte während des 1. Fünfjahresplans begonnene Bauprojekt war das gewaltige Fleischkombinat in Engels, das unmittelbar vor dem Krieg vollständig in Betrieb genommen wurde und seine Rohprodukte aus einem riesigen Territorium bezog, das weit über die Grenzen der Republik der Wolgadeutschen hinausreichte. Ausgebaut wurden auch Industriebranchen mit zugelieferten Ausgangsprodukten. Die wiedererrichte (bzw. praktisch neu gebaute) Fabrik „Kommunist“ (Marxstadt) spezialisierte sich auf die Produktion von Benzinmotoren für die Landwirtschaft und den Flusstransport. Darüber hinaus wurden die Werkzeugmaschinenfabrik „Rekord“ im Dorf Grimm sowie Ziegeleien in Marxstadt und Balzer gebaut. In Balzer wurde eine handwerkliche Werkstatt zum Maschinenreparaturwerk „Arbeiter“ umgerüstet. In den Jahren 1929-30 konkurrierte Engels erfolglos mit Stalingrad um das Recht, eine Traktorenfabrik zu bauen, durfte zum Ausgleich aber ein Traktorenreparaturwerk bauen. Auf dem rechten Ufer der Wolga begann die Förderung von Kalk, Tripolit usw.
Radikal umgebaut wurde die Textilindustrie. 1941 gab es in der Republik der Wolgadeutschen das im Dorf Krasnyj Tekstilschtschik ansässige Spinnwerk „Samojlow“ , das 1.900 Menschen beschäftigte, zwei in Balzer („Karl Liebknecht“, 1.377 Arbeiter) und Kratzke („Fortschritt“ – 679 Arbeiter) ansässige Webereien sowie in Balzer die Strumpf- und Trikotage-Fabrik „Klara Zetkin“ (1.118 Arbeiter). Ebendort wurde vor dem Krieg auch eine Fabrik in Betrieb genommen, die Garn färbte und aufrollte. Die Fülle der auf dem Gebiet der Republik produzierten landwirtschaftlichen Rohprodukte, die Nähe zum Baskuntschak- und zum Eltonsee mit ihren großen Kochsalzvorkommen sowie die Schiefervorkommen in Saweljow und Obschesyrtowsk begünstigten die industrielle Entwicklung der Republik. Zum Ende des 2. Fünfjahresplans wurde das vorrevolutionäre Entwicklungsniveau der industriellen Produktion überschritten. Zur Zeit des 1. Fünfjahresplans wurden zahlreiche bereits bestehende Manufakturen umgebaut und erweitert. 1939 wurden in der Republik der Wolgadeutschen 231 Werkbänke, 2.611 Tonnen Garn, 19,3 Mio Meter Baumwollstoff, 4.453.600 Stück Trikotageware, 9.752.200 Tonnen Fleisch- und Wurstprodukte, 126,8 Kisten Machorka, 620 Tonnen Butter, 841,8 Tonnen Käse, 6.238.000 Einheitsbüchsen Konserven, 81.400 Kubikmeter Kantholz, 65,3 Mio. Stück Ziegel und verschiedene weitere Waren produziert. Allerdings kamen die Früchte der Industrialisierung kaum bei der Bevölkerung an, da ein Großteil der Produktion (insbesondere Lebensmittel) aus der ASSR der Wolgadeutschen ausgeführt wurde. Die wichtigsten zur Zeit des 3. Fünfjahresplans in der Republik der Wolgadeutschen errichteten Neubauten waren eine Fabrik für Galvanikanlagen, eine Fabrik für den Bau chemischer Anlagen und Fabriken für Wollaufbereitung (die bis Kriegsbeginn nicht in Betrieb genommen wurden). In der unmittelbaren Vorkriegszeit sah sich die Staatsführung gezwungen, gewisse ökonomische Anreize zu schaffen, die allerdings weiterhin mit Kommandowirtschaft und Willkür einhergingen. Weitere Produktionssteigerungen und die Erfüllung der Planvorgaben ließen sich in der Industrie nur durch verstärkte Ausbeutung der Arbeiter und des ingenieurtechnischen Personals, durch Erhöhung der Arbeitsnormen und eine durch Androhung von Strafen und Repressionen erzwungene Steigerung der Arbeitsdisziplin erreichen.
Im Zuge der Umsetzung der Industrialisierungspläne zeigte sich immer deutlicher, dass Probleme der Energie- bzw. Stromversorgung die weitere Entwicklung der Industrie der Republik der Wolgadeutschen maßgeblich bremsten. 1937 lag der Strombedarf in der Republik bei insgesamt 33,0 Mio. Kilowattstunden, die nur zu 4,7% (1,56 kWh) durch eigene Kraftwerke gedeckt werden konnten. Der gesamte restliche Bedarf (95,3%) wurde aus dem Saratower Energiekombinat bezogen. Da die Stromübertragung aus Saratow allerdings mit häufigen Ausfällen einherging, kam es praktisch in allen großen Unternehmen der Republik der Wolgadeutschen zu großen Produktionsausfällen und in der Folge zur Nichterfüllung der Pläne. So bekamen z.B. die Fabriken der Leichtindustrie nur 40-50% der benötigten Elektrizität, weswegen die Maschinen in diesen Fabriken in 23-35% der Arbeitszeit stillstanden. Folglich wurde auch der Plan der Leichtindustrie 1937 nur zu 74,7% erfüllt. Eine ähnliche Situation war auch in vielen anderen Industriebranchen zu verzeichnen. Das Problem der Strom- und Treibstoffversorgung der Unternehmen ließ sich in der gesamten Vorkriegszeit nicht lösen, so das Stromausfälle chronisch waren. 1940 wurden die Unternehmen der Republik der Wolgadeutschen nur zu 50-70% mit Elektrizität versorgt. Vor diesem Hintergrund sah sich die Führung der Republik der Wolgadeutschen gezwungen, sich mit dem Gesuch an das ZK der WKP(b) zu wenden, auf dem Gebiet der deutschen Autonomie ein neues Kraftwerk mit einer Leistung von 20.000 Kilowattstunden zu bauen. Ende 1940 begannen in Engels die Vorarbeiten für den Bau eines auf 24.000 Kilowattstunden ausgelegten Heizkraftwerks.
Die Infrastruktur in der Republik der Wolgadeutschen wurde wie übrigens auch in den angrenzenden Gebieten der Wolgaregion kaum ausgebaut. Hauptverkehrsadern waren die Wolga sowie die noch vor der Revolution gebaute Eisenbahnlinie, die Zentralrussland mit Kasachstan und Mittelasien verband. Binnenhäfen gab es in Engels, Marxstadt und Rownoje, gut ausgebaute Anlegestellen praktisch in allen am Fluss gelegenen Dörfern. Große Eisenbahnstationen gab es in Pokrowsk, Anisowka, Urbach, Krasnyj Kut, Gmelinka, Pallasowka und Awilowo. In den Jahren 1929-32 lag der durchschnittliche jährliche Frachtumschlag auf den Wasserstraßen bei etwa 300.000 und bei der Eisenbahn bei 800.000 Tonnen. Eine weitere Steigerung des Frachtumschlags bei der Eisenbahn wurde durch eine fehlende Eisenbahnbrücke über die Wolga gehemmt.
Über die Hälfte aller Kantone lagen weder an der Wolga noch an den Eisenbahnlinien und waren nur über Feldstraßen zu erreichen, die auch für den Autoverkehr genutzt wurden. Nichtsdestotrotz waren Ausbau bzw. Ausbesserung des Straßennetzes im 1. Fünfjahresplan nicht vorgesehen. 1933 bestanden 96,6% des gesamten Straßennetzes der Republik der Wolgadeutschen aus sogenannten Feldstraßen, die nicht ausgebaut, von Fuhrwerken ausgefahren und nach Regenfällen nicht zu passieren waren. Im 2. Fünfjahresplan wurde dem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur größere Aufmerksamkeit zuteil. Von großer ökonomischer Bedeutung war für die Republik der Wolgadeutschen die Inbetriebnahme der Eisenbahnbrücke über die Wolga im Jahr 1935, durch die die ASSR eine direkte Schienenanbindung an die Magistralen des rechten Ufers erhielt, die von Saratow aus in Richtung Moskau, Kujbyschew und Rostow am Don liefen. Dadurch ließ sich der Frachtumschlag bis 1937 auf über eine Million Tonnen steigern. In den Jahren des 2. Fünfjahresplans stieg auch der Frachtumschlag des Schiffsverkehrs, der 1938 386.000 Tonnen betrug. 1933 begann der Bau von Autostraßen, für die vor allem die Feldstraßen planiert wurden. Anfang des 3. Fünfjahresplans bestand ein Viertel des Straßennetzes aus planierten Straßen. Lediglich 0,6 % des Straßennetzes bestanden aus Kies-, Schotter- oder Kopfsteinpflasterstraßen (31 km). Von 1937 an wurde in der Republik der Wolgadeutschen als weiteres Transportmittel das Flugzeug genutzt. Im Juni 1937 wurde eine erste reguläre Post- und Passagierfluglinie eröffnet, die Saratow, Engels, Mariental, Gnadenflur, Mokrous, Krasnyj Kut, Friedenfeld, Gmelinka, Pallasowka, Staraja Poltawka, Dobrinka, Oberdorf, Hussenbach, Grimm, Balzer, Solotoje, Engels und wieder Saratow bediente. Insgesamt wurde die Verkehrsinfrastruktur der ASSR der Wolgadeutschen in den ersten beiden Fünfjahresplänen nicht bedarfsgerecht ausgebaut, was sowohl in der Wirtschaft als auch in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens immer gravierendere Probleme nach sich zog. In den unmittelbaren Vorkriegsjahren wurde das Transportwesens weiter ausgebaut, hielt aber offenkundig nicht mit den Bedürfnissen der Volkswirtschaft mit. Der durchschnittliche Jahresfrachtumfang lag bei der Eisenbahn bei 1,1 Mio. Tonnen und auf der Wolga bei 400.000 Tonnen. Immer noch bestanden 63% des Straßennetzes aus Feldstraßen und lediglich 50 km waren mit Kies, Schotter oder Kopfsteinpflaster befestigt. Zu Beginn des Krieges gab es zwei lokale Fluglinien, die 1939 35,3 Tonnen Postfracht beförderten.
1929-37 erhielten alle Kantonszentren eine Telefon- und Telegrafenverbindung mit der Hauptstadt der Republik der Wolgadeutschen in Engels. An das Telefonnetz angeschlossen wurden auch alle Dorfsowjets und Maschinen-Traktoren-Stationen. Es gab über 100 Poststellen, die größtenteils über Telefon- und Telegrafenverbindungen verfügten. Von 1933 an wurde die Post nicht nur mit Fuhrwerken, sondern auch mit Automobilen befördert, ab 1937 gab es Luftpost. 1940 gab es in der Republik der Wolgadeutschen 182 Poststellen, von denen sich 167 in Dörfern befanden. Es gab sechs überregionale sowie 24 städtische und Kantonstelefonstellen mit insgesamt 2.675 Nummern, von denen sich 360 in Dörfern außerhalb der Kantonszentren befanden. Zum Transport der Postfracht wurden sieben Postwaggons, 35 Autos und 187 Pferde genutzt.
Der Handel entwickelte sich in der Republik der Wolgadeutschen wie in der gesamten Sowjetunion in den 1920er und vor allem in den 1930er Jahren nur schwach. Auch wenn der Gesamtumfang des Einzelhandels stetig stieg, war ein Mangel an Waren des täglichen Bedarfs chronisch. Die Bewohner der Republik bekamen in den Geschäften praktisch nie Wurst, Fleisch, Käse und andere Lebensmittel zu sehen, obwohl zugleich Hunderte und Tausende Tonnen Käse, Fleisch und Wurst im Rahmen der staatlichen Lebensmittelbeschaffung aus der Republik ausgeführt wurden. Und doch zeugte der Handel als eindeutiges soziales Barometer in den unmittelbaren Vorkriegsjahren von einem allmählich wachsenden Wohlstand der Bewohner der Republik der Wolgadeutschen. Einen immer größeren Anteil am allgemeinen Umfang der verkauften Waren machten Kulturgüter (Patefone, Musikinstrumente usw.), Möbel, Einrichtungsgegenstände, Parfümerie- und Konditorwaren usw. aus.
In den Jahren des 1. und 2. Fünfjahresplans entwickelte sich die Kommunalwirtschaft der Städte und Arbeitersiedlungen sehr schwach, was wiederum bedeutete, dass die früheren alles andere als beneidenswerten Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter weiterbestanden
Im gesamten Zeitraum des Bestehens der Republik der Wolgadeutschen blieb das Gesundheitswesen schwach entwickelt. Erst in den unmittelbaren Vorkriegsjahren ließen sich spürbare Verbesserungen verzeichnen. 1941 gab es in der Republik der Wolgadeutschen 53 Krankenhäuser, 11 Geburtskliniken und 90 Ambulanzen. Es praktizierten 259 Ärzte, darunter 50 Bereichsärzte sowie 1.292 Personen des mittleren medizinischen Personals. Bei einigen Infektionskrankheiten konnte die Zahl der Erkrankungen deutlich gesenkt werden. Zugleich blieb die medizinische Versorgung im ländlichen Raum schwach entwickelt, es fehlte sowohl an Medikamenten und Ausstattung als auch an qualifiziertem Personal für die Landkrankenhäuser. Gebärende nutzten umfassend die Dienste von (nichtprofessionellen) Geburtshelferinnen, ungeachtet von Verboten und drohender Strafverfolgung waren illegale Abtreibungen weit verbreitet. Schwach entwickelt war auch die Kindermedizin.
Die Jahre des 1. Weltkriegs, der revolutionären Wirren und des Hungers versetzten dem vor der Revolution in den deutschen Wolgakolonien recht gut ausgebauten Schulsystem einen schweren Schlag. In den Jahren 1914–28 sank das Bildungsniveau der deutschen Kinder dramatisch. Hatten diese 1914 mit 80% noch eine der höchsten Alphabetisierungsraten in Russland aufgewiesen, sank der entsprechende Wert bis 1928 fast auf das Niveau der Nomadenvölker ab (38,6%). Hinsichtlich ihres Alphabetisierungsgrads blieben die deutschen Kinder 1928 weit hinter ihren russischen (56%) und ukrainischen (58,7%) Altersgenossen zurück, denen sie vor der Revolution noch weit voraus gewesen waren. Diese Entwicklung ließ sich vor allem auf einen kolossalen Mangel an Lehrkräften, Schulbüchern, und Schulgebäuden zurückführen. Infolge der Trennung von Schule und Kirche waren viele alte Lehrer entlassen, repressiert oder emigriert oder hatten den Beruf gewechselt, während es zugleich weder in der Republik der Wolgadeutschen noch irgendwo sonst in der Sowjetunion die Voraussetzungen gab, eine neue Generation deutscher Lehrer auszubilden. Die unter den Deutschen zu verzeichnende Bildungsmisere war dermaßen groß, dass sich die Führung der Republik der Wolgadeutschen mehrfach gezwungen sah, die zentralen Partei- und Staatsorgane zur Ergreifung außerordentlicher Maßnahmen aufzufordern. So schlugen sie unter anderem vor, ein deutsches Pädagogisches Institut und eine deutsche Arbeiterfakultät zu gründen, um auch die deutsche Jugend auf die Aufnahme eines Hochschulstudiums vorzubereiten, 1-2 deutsche Pädagogische Fachoberschulen einzurichten und die Ausbildung der für die deutschen Schulen in der gesamten Sowjetunion bestimmten Lehrer in der Republik der Wolgadeutschen zu konzentrieren. Erst mit Beginn der „Kulturrevolution“ wurde die Umsetzung einiger dieser Vorschläge in Angriff genommen. So sind als positive Faktoren für die 1930er Jahre ein schneller Anstieg des Bildungsniveaus der Bevölkerung, die Ausweitung der Zahl der Mittel- und Siebenklassenschulen, die Überwindung des Analphabetismus unter Kindern und eine spürbare Senkung der Zahl erwachsener Analphabeten zu nennen. Im Schuljahr 1937/38 besuchten 103.700 Schüler die Schulen der Republik der Wolgadeutschen. Die aus dem lokalen Haushalt geleisteten Bildungsausgaben stiegen (inflationsbereinigt) von 4,4 Mio. Rubel im Jahr 1930 auf 10 Mio. im Jahr 1932 und 15 Mio. im Jahr 1937, so dass die Schulen finanziell deutlich besser ausgestattet waren. In den unmittelbaren Vorkriegsjahren stieg die Zahl der Schulen (insbesondere der Mittel- und Siebenklassenschulen) und Schüler noch deutlicher an. Am 1. September 1939 wurde in der Republik der Wolgadeutschen die allgemeine siebenjährige Schulpflicht eingeführt. Nach Stand zum 1. Oktober 1939 gab es in der Republik 117.200 Schüler allgemeinbildender Schulen und 5.500 Studenten an Hoch- und Fachoberschulen, was 20,3% der Bevölkerung entsprach. Nach Stand zum Oktober 1940 besuchten 15.100 Schüler die Grundschulen, 58.800 Schüler die insgesamt 215 Siebenklassenschulen und 38.800 Schüler die insgesamt 72 Mittelschulen.
Im Herbst 1940 kam es in der sowjetischen Bildungspolitik zu einem scharfen Kurswechsel. Am 2. Oktober verabschiedete das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR den Erlass „Über die staatlichen Arbeitsreserven der UdSSR“, dem zufolge die jungen Leute verstärkt an berufsbildenden Schulen und Eisenbahn- und Fabrikschulen lernen sollten. Um die Umsetzung dieses Erlasses zu erleichtern, beschloss der Rat der Volkskommissare, in den höheren Klassen der Mittelschulen und an den Hochschulen Schulgebühren einzuführen, und erschwerte den Erhalt von Stipendien. Diese Beschlüsse, die Tausende junge Leute aus materiellen Gründen vom Besuch der Mittel- und Hochschulen ausschlossen, versetzten dem gerade erst aufgebauten und noch nicht gefestigten System der mittleren und höheren Bildung in der Republik der Wolgadeutschen einen schweren Schlag. Die Zahl der Schüler der höheren Klassen ging schlagartig zurück. Viele Mittelschulen wurden erneut zu Siebenklassenschulen. Auch wenn die Kampagne der „Arbeitsreserven“ formal keinerlei Züge einer nationalen Diskriminierung trug, hatte die deutsche Jugend am stärksten darunter zu leiden. Die ohnehin kleine Zahl der deutschen Jungen und Mädchen, die eine mittlere oder höhere Schulbildung in ihrer Muttersprache erhielt, ging erheblich zurück.
Für den weiteren Ausbau des Schulsystem musste die Zahl der Lehrer deutlich gesteigert werden. Im September 1929 nahm das Deutsche Staatliche Pädagogische Institut seine Arbeit auf und bildete an zunächst zwei Fakultäten (linguistische und historisch-ökonomische) Deutsch- und Geschichtslehrer aus. Im September 1931 kamen zwei weitere Fakultäten (physikalisch-mathematische und biologische) hinzu. Insgesamt hatte das Pädagogische Institut im Studienjahr 1931/32 260 Studenten. Das Studium dauerte vier Jahre, so dass der erste Abschlussjahrgang das Pädagogische Institut im Jahr 1934 verließ. Da die Zahl der am Pädagogischen Institut ausgebildeten Lehrer nicht ausreichte, um den Bedarf aller Schulen zu decken, sah sich die Führung der Republik der Wolgadeutschen gezwungen, beim Zentrum um Erlaubnis zu bitten, unter dem Dach des Deutschen Staatlichen Pädagogischen Institut ein Lehrerinstitut mit einer Studienzeit von nur zwei Jahren einzurichten, an dem künftige Pädagogen ein extrem verkürztes Studium absolvieren konnten. Die in den Zweijahreskursen ausgebildeten Lehrer sollten in den Siebenklassenschulen unterrichten. Die ersten Studenten wurden am neuen Lehrerinstitut 1935 aufgenommen. 1937 hatte es bereits 189 Studenten und war damit die wichtigste mit der Ausbildung deutscher Lehrer befasste Lehranstalt, zumal das Vierjahresinstitut infolge des aus den Massenrepressionen sowohl am Institut als auch in den Organen der Volksbildung resultierenden Durcheinanders in diesem Jahr keine Studenten aufnahm.
Wie an den Schulen waren Leitung, Lehrkörper und Studenten auch am Deutschen Pädagogischen Institut ständigen Überprüfungen ihrer Zuverlässigkeit und endlosen „Säuberungen“ ausgesetzt, was sich negativ auf die Qualität der Ausbildung der künftigen Pädagogen auswirkte. So „deckten“ z.B. das Gebietsparteikomitee der WKP(b) und die OGPU der ASSR der Wolgadeutschen nicht einmal ein Jahr nach der Gründung eine „bourgeois-nationalistische Gruppe“ am Institut „auf“, als deren Organisatoren die Professoren G. Dinges und W. Synopalow sowie der Dozent P. Rau ausgemacht wurden. Der „Gruppe“ wurde zur Last gelegt, staatliche Gelder für den Ankauf „weißgardistischer Literatur“ verwendet zu haben (1929 war Professor Dinges nach Deutschland gereist und hatte dort eine große Menge Bücher für die Bibliothek des Pädagogischen Instituts gekauft). Die „Führer der Gruppe“ wurden verhaftet, unter den Lehrkräften und Studenten wurde eine „Säuberung“ durchgeführt und die Parteiorganisation „verstärkt“. Infolgedessen verlor das Pädagogische Institut bereits kurz nach seiner Gründung in Gestalt von Dinges und Rau seine profiliertesten Wissenschaftler in den Bereichen Linguistik und Ethnographie der Wolgadeutschen. 1934 wurden der Professor D. Kegler (Geschichte) und der Dozent A. Wagner (Zoologie) aus dem Institut entfernt, weil sie in den von ihnen gelehrten Disziplinen angeblich „den marxistisch-leninistischen Inhalt durch eine bourgeois-pädagogische Richtung“ ersetzt hatten.
Neben dem Pädagogischen Institut bildeten auch Pädagogische Fachoberschulen [Technikum] bzw. nach 1937 Pädagogische Fachschulen Lehrer aus. 1932 lernten insgesamt 840 Personen, die nach Abschluss ihrer Ausbildung an den Grundschulen unterrichten sollten, an den drei Fachoberschulen.
Nach dem pädagogischen Zweig bildeten landwirtschaftliche Lehr- und Studiengänge den zweitwichtigsten Bereich der mittleren und höheren Bildung der Republik der Wolgadeutschen. In den 1930er Jahren wurden vier Landwirtschaftliche Fachoberschulen gegründet, an denen nationale Spezialistenkader ausgebildet wurden: die Fachoberschule für Mechanisierung der Landwirtschaft in Marxstadt, die Fachoberschulen für Feldwirtschaft in Hussenbach und Krasnyj Kut und die Fachoberschule für Veterinärmedizin in Krasny Kut, an denen für alle Bereiche der landwirtschaftlichen Produktion (nicht akademische) Fachkräfte ausgebildet wurden. 1931 wurde in der Republik der Wolgadeutschen ein deutsches Landwirtschaftsinstitut gegründet, das jedes Jahr etwa 100 neue Studenten aufnahm und Spezialisten in den Fachbereichen industrieller Ackerbau, Getreidekulturen und Milchwirtschaft ausbildete.
Neben den pädagogischen und agrarwissenschaftlichen höheren und mittleren Lehranstalten wurden in den Jahren des 1. und 2. Fünfjahresplans in der Republik der Wolgadeutschen die Abendfachoberschule für Vorschulbibliothekswesen in Engels, die Fachoberschule für sowjetischen Handel in Engels, Sanitäts- und Geburtshelfer-Schulen in Engels und Balzer, „Schwesternschulen“ in Marxstadt und Krasnyj Kut, Musik-Fachschulen in Engels und Marxstadt sowie eine Musikschule in Engels gegründet. Ungeachtet aller Mängel und einer schwachen finanziellen Ausstattung konnten dank dieser Lehranstalten schließlich für die wichtigsten Lebensbereiche und insbesondere für den sozio-kulturellen Bereich Fachkräfte ausgebildet werden.
Neben den genannten Lehranstalten wurde 1931 in der Republik der Wolgadeutschen eine weitere Hochschule gegründet, die zunächst Deutsche Kommunistische Universität hieß und als elitäre Parteischule hochqualifizierte Kader für die örtlichen Partei- und Sowjetorgane ausbildete. 1932 erlangte die Kommunistische Universität gesamtsowjetische Bedeutung, da bis zu 40% ihrer Studienplätze an Partei- und Sowjetfunktionäre der verschiedenen deutschen nationalen Rayone der gesamten UdSSR vergeben wurden. 1932 wurden insgesamt 270 Studenten aufgenommen. Im Herbst 1932 wurde die Kommunistische Universität auf Beschluss des ZK der WKP(b) zur Deutschen Kommunistischen Landwirtschaftsschule „Stalin“ umgewandelt, behielt ihren elitären Parteicharakter allerdings bei. Im März 1939 wurde die Schule zur Deutschen Kolchos- und Landwirtschafts-Fachoberschule „Stalin“, die nur noch einen Zweijahreskurs anbot.
In den unmittelbaren Vorkriegsjahren waren die in der ASSR der Wolgadeutschen bestehenden Hochschulen den gleichen Kampagnen und Prozessen ausgesetzt wie die Schulen – insbesondere dem „Kampf für die Qualität“ der Lehre. Allerdings hatte der Kurswechsel in der sowjetischen Nationalitätenpolitik hier noch gravierendere Folgen 1938 wurden am Pädagogischen Institut und am Lehrerinstitut russische Abteilungen eingerichtet, an denen Lehrer für die russischen Schulen ausgebildet wurden, was bei den deutschen Abteilungen entsprechende Kürzungen nach sich zog. Nach Stand zum 1. September 1940 waren 196 der insgesamt 609 Studenten des Pädagogischen Instituts (32%) und 203 der insgesamt 394 Studenten des Lehrerinstituts (58%) Deutsche. Nach Einführung der Studiengebühren verließen 47% der Studenten das Pädagogische und 58% der Studenten das Lehrerinstitut. Nach diesem Aussieben stellten Deutsche an den beiden genannten Instituten nur noch 36,3% aller Studierenden, was in einer Republik, in der Deutsche fast zwei Drittel der Bevölkerung stellten, eine gänzlich unbefriedigende Situation darstellte. Ein ähnliches Bild ließ sich auch am Deutschen Landwirtschaftsinstitut zeichnen.
Nach Stand zum 1. Januar 1941 gab es in der ASSR der Wolgadeutschen 1.269 Spezialisten mit Hochschulbildung, darunter 216 Ingenieure verschiedener Fachrichtungen, 67 Ökonomen, 146 Agrarwissenschaftler, 171 Agrarwirte und Tierärzte, 234 Ärzte, 374 Pädagogen und 61 sonstige Spezialisten.
So wichtig Kultur für die Befriedigung nationaler Bedürfnisse ist, spielte sie im öffentlichen Leben der Republik der Wolgadeutschen in den 1920er Jahren nur eine untergeordnete Rolle. Es gab zu dieser Zeit 34 Bibliotheken, 80 Lesehütten, zwei Museen, 35 Klubs und 14 Filmvorführungsanlagen. Die Tatsache, dass die bolschewistische Führung ökonomischen und politischen Fragen uneingeschränkt Priorität gab, fügte der Kultur einen gewaltigen Schaden zu. Literatur allgemein und um so mehr deutsche Literatur war Mangelware. Der ohnehin nur über geringe Kapazitäten verfügende Buchverlag in Pokrowsk war mit der Herausgabe von Schulbüchern (die den Bedarf der Schulen längst nicht decken konnten) und Propagandaliteratur (die ungeachtet knapper Finanzen immer Priorität genoss) vollkommen ausgelastet. Buchstäblich in einzelnen Exemplaren erschien ökonomische Literatur, vor allem Übersetzungen. Das fehlende Literaturangebot wurden in gewisser Weise durch die periodische Presse kompensiert – die russischsprachige Partei- und Sowjetzeitung „Trudowaja Prawda“ und die deutschsprachigen „Nachrichten“, die Komsomolzeitung „Rote Jugend“ und die Pionierzeitung „Sei bereit“. Die beiden letzteren erschienen in unregelmäßigen Abständen. Auflage, Format und Erscheinungsfrequenz aller Zeitungen änderten sich ständig und hingen von den jeweiligen finanziellen Möglichkeiten ab. Die hochgradig politisierten Zeitungen und Zeitschriften schenkten kulturellen Fragen keinerlei Aufmerksamkeit oder wurden, wenn sie dies entgegen dem politischen Diktat dennoch versuchten, Verfolgungen ausgesetzt und geschlossen. Das gleiche Schicksal ereilte auch die Zeitschrift „Unsere Wirtschaft“, die zu den besten Publikationen gehörte. In der ersten Hälfte der 1920er Jahre waren unter der Bevölkerung der Republik der Wolgadeutschen aus Deutschland und den USA kommende wolgadeutsche Emigrantenzeitungen verbreitet, die in der Regel mit den von ausländischen Verwandten geschickten Hilfspaketen oder über Kirchenkanäle illegal ins Land gelangten. Zur Bekämpfung der „weißgardistischen Presse“ wurden umgehend Partei- und Komsomolaktivisten sowie die Organe der GPU und der Miliz mobilisiert. Gegen Mitte der 1920er Jahre waren alle Kanäle, über die ausländische Presseerzeugnisse ins Land gelangen konnten, geschlossen. Der letzte verbleibende Zufluchtsort der nationalen Kultur war das von G. Dinges geleitete Heimatkundemuseum der Republik, das aber ebenfalls unter einem immer größeren ideologischen Druck stand. Die Ausstellung wurde verwässert und verlor ihren nationalen Charakter. Anfang der 1930er Jahre wurde im Museum eine Säuberungskampagne durchgeführt, in deren Verlauf viele Mitarbeiter einschließlich des Direktors repressiert wurden.
1933 wurde der „Sowjetische Schriftstellerverband der Republik der Wolgadeutschen“ gegründet, der die literarisch-künstlerische und publizistische Zeitschrift „Der Kämpfer“ herausgab. Die Kampagne zur Förderung des literarischen Schaffens der Republik der Wolgadeutschen blieb nicht ohne Erfolg. So ließen viele Werke von F. Bach, G. Sawatzki, P. Kufeld und anderen unbestreitbares Talent erkennen.
Die in der Republik der Wolgadeutschen erscheinende periodische Presse entwickelte sich in den 1930er Jahren unter dem Einfluss widersprüchlicher Tendenzen. Einerseits war die Führung der ASSR der Wolgadeutschen aus politisch-ideologischen Erwägungen an einer Ausweitung der Zahl der Presseerzeugnisse interessiert, so dass möglichst jede Sowchose, jede Maschinen-Traktoren-Station und jedes Industrieunternehmen über ein eigenes Organ verfügen sollte. Andererseits mussten Auflagen, Format und Umfang dieser Presseerzeugnisse aus Geldmangel beschnitten und viele von ihnen auch ganz eingestellt werden. Wie in der gesamten Sowjetunion stand die Presse auch in der Republik der Wolgadeutschen unter strenger Parteikontrolle, was die einzelnen Zeitungen und Zeitschriften grau, gesichtslos und verwechselbar werden ließ. Einen Großteil der Zeitungsseiten nahmen offizielle Materialien, Beschreibungen verschiedener wirtschaftlicher und politischer Kampagnen usw. ein. Alle Zeitungen und Zeitschriften huldigten unbegrenzt dem Kult um J. Stalin und die WKP(b).
In den Jahren der ersten Fünfjahrespläne wurden die Ortschaften der Republik der Wolgadeutschen recht schnell mit Radios ausgestattet. 1930 wurde in Pokrowsk eine nach den Maßstäben der Zeit recht starke Funksendeanlage gebaut und in Betrieb genommen, dank derer Radiosendungen aus der Hauptstadt der Republik der Wolgadeutschen überall in der Republik empfangen werden konnten. Ende 1931 gab es in der deutschen Autonomie 3.300 Radiopunkte, deren Zahl bis Anfang 1938 auf 9.000 stieg. Radioapparate wurden nicht nur an öffentlichen Orten, sondern auch in Privathäusern der Bürger und an belebten Plätzen auf der Straße aufgestellt. Gesendet wurde in deutscher und russischer Sprache. 1940 gab es in der Republik der Wolgadeutschen bereits 23 Funkleitstellen: in Engels und in jedem der Kantonszentren. Die Zahl der Radiopunkte lag bei fast 12.000, u.a. wurden auch in den Dörfern etwa 3.500 Radiopunkte eingerichtet. Wie die Zeitungen wurden auch das Radio von den Machthabern aktiv zu Propagandazwecken genutzt.
In den 1930er Jahren stieg in der deutschen Autonomie weiterhin die Zahl der der kulturellen Aufklärung dienenden Einrichtungen. 1937 gab es 44 mobile Filmvorführanlagen (19 für Tonfilme, 25 für Stummfilme), 21 Kulturhäuser, 286 Lesehütten, 236 Klubs und 76 Bibliotheken. Am Vorabend des Kriegs wurden fünf neue Kinos gebaut, darunter das zentrale Lichtspieltheater der Republik der Wolgadeutschen „Rodina“ [Heimat] in Engels. Es gab ein eigenes Studio für die Produktion der Kinochronik (Nemkino“), das 1939 18 Ton- und 7 Stummfilm-Kinojournale herausgab.
Bei den Kulturhäusern und Kolchosklubs bestanden verschiedene Zirkel für Laienkunst. Große Bekanntheit erlangten der Theaterzirkel des Dorfs Boisroux, der 23 Stücke aufführte, das Laienorchester für Saiteninstrumente im Dorf Brockhausen und eine aus elf Personen im Alter von 60-76 Jahren bestehende Seniorentanzgruppe im Dorf Paulskoe. Aus den Laienspielgruppen entstanden drei semiprofessionelle Ensembles: die Kolchos- bzw. Sowchosetheater in Marxstadt, Balzer und Krasnyj Kut.
Eine große Errungenschaft waren Gründung und professioneller Spielbetrieb deutscher und russischer staatlicher Sprechtheater, des deutschen Staatschors, der Deutschen Staatsphilharmonie mit einem Symphonieorchester und einem Ensemble für Gesang und Tanz und des Operetten-Theaters. Im Deutschen Staatstheater waren bekannte Schauspieler und Regisseure tätig, die nach Hitlers Machtergreifung aus Deutschland geflohen waren (E. Piscator, A. Granach, E. Busch, E. Weinert, F. Wolf u.a.). Das Repertoire des Theaters umfasste russische und westliche Klassiker sowie Werke des Sozialistischen Realismus. Eine einzigartige Institution im Kulturbetrieb der Republik der Wolgadeutschen war der Deutsche Staatschor, dessen hochprofessionelles Kollektiv auf gesamtsowjetischen Wettbewerben für Chorgesang mehrfach mit Preisen ausgezeichnet wurde. 1937 bestand der Chor aus einem Stammensemble (65 Personen), acht Chorfilialen und zwei Patenchören und konnte bei Bedarf einen 600-köpfigen Chor aufbieten. Die Kultureinrichtungen standen unter strenger ideologischer Zensur. So wurden 1940 aus ideologischen Überlegungen in den Sprechtheatern Aufführungen von „Kabale und Liebe“ von F. Schiller und „Egor Bulytschew“ von M. Gorkij abgesetzt. Die Theaterensembles waren ständigen Säuberungen ausgesetzt, insbesondere im Jahr 1937 wurden viele Kulturschaffende repressiert.
Von 1934 an starteten die Machthaber im Rahmen der Kampagne des „Kampfes gegen die Faschisten und ihre Helfershelfer“ einen massiven Angriff auf die nationale Kultur der Wolgadeutschen und jegliche Erscheinungsformen nationaler Spezifik. Das Gebietsparteikomitee der WKP(b) der Republik der Wolgadeutschen fasste auf Weisung von oben mehrere auf die Bekämpfung des „kulakisch-deutschen Nationalismus“ gerichtete Beschlüsse. In den Beschlussfassungen wurde darauf verwiesen, dass die Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland zu einer schlagartigen Aktivierung der „konterrevolutionären bourgeois-nationalistischen Elemente“ in der Republik der Wolgadeutschen geführt habe. Es hieß, dass sich die Faschisten in den Schulen, Fachoberschulen, Hochschulen und Kultureinrichtungen in ein „nationales Kostüm“ hüllten, was sich in nationalismusdurchsetzten Lehrbüchern, in der Verbreitung „ideologisch unausgereifter“ nationaler Lieder, in der Austreibung des Internationalismus aus den Lehrdisziplinen, literarischen Werken, Stücken usw., in der Entfesselung nationaler Zwiste unter jungen Leuten und in der zunehmenden Aktivität der „Popenelemente“ ausdrücke. Das Büro des Gebietsparteikomitees forderte von allen Parteiorganisationen der Republik der Wolgadeutschen „besondere Wachsamkeit und gnadenlose Zerschlagung des örtlichen konterrevolutionären deutschen Nationalismus“. Mit der Herausgabe dieser Beschlussfassungen begann in der Republik der Wolgadeutschen eine Kampagne des umfassenden Verbots und der Verfolgung vieler nationaler Traditionen und Gebräuche. Bekannte Wissenschaftler und Kulturschaffende wurden des „National-Faschismus“ beschuldigt.
Die „Kulturrevolution“ trug in der Republik der Wolgadeutschen in den Jahren 1929-37 einen widersprüchlichen, doppeldeutigen Charakter. Einerseits stieg das Bildungsniveau der Bevölkerung ebenso wie die Zahl der mittleren und Siebenklassen-Schulen, der Analphabetismus unter Kindern wurde ausgemerzt und die Analphabetenrate unter Erwachsenen deutlich gesenkt, es entstanden nationale Hoch- und Fachschulen, Theater und andere kulturelle Einrichtungen. Literatur und Kunst entwickelten sich. Andererseits stand die Kultur überall unter der Knute einer strengen ideologischen Zensur. Viele im Bildungs- und Wissenschaftsbetrieb tätige Mitarbeiter, Schriftsteller und Künstler waren Verfolgungen und Repressionen ausgesetzt. Der „Kampf gegen den Nationalismus“ fügte der nationalen deutschen Kultur schweren Schaden zu und Verfolgungen und Verbote ließen viele nationale Traditionen und Gebräuche, die ein jahrhundertealtes geistiges Erbe darstellten, in Vergessenheit geraten. Viele Kulturschaffende wie z.B. der Schriftsteller G. Sawatski, der Künstler Ja. Weber und der Komponist G. David wurden repressiert. Besonders hatten bei dieser Kampagne die Lehrer und Dozenten der Fachoberschulen und Hochschulen zu leiden, die den größten Teil der wolgadeutschen Intelligenz stellten. Die Geschichte der Wolgadeutschen und ihrer Autonomie selbst wurde im Geist des „Kurzen Kurses der Geschichte der WKP(b) verfälscht.
Auch in den 1920er Jahren prägte die Religion insbesondere auf dem Land weiterhin die nationale Kultur der Wolgadeutschen. Über zwei Drittel der deutschen Gläubigen waren Lutheraner, etwa 15% Katholiken, etwa 8% Mennoniten, die übrigen Orthodoxe und Angehörige verschiedener kleinerer Sekten. Die russische und ukrainische Bevölkerung war orthodox, Tataren, Kasachen und einige weitere ethnische Gruppen Muslime. Für die Mehrheit der Bevölkerung und insbesondere für die Deutschen blieben Religion und Kirche die einzige Möglichkeit, ihre geistigen nationalen Bedürfnisse zu befriedigen. Auch wenn die Kirchen ihre Loyalität gegenüber der Sowjetmacht erklärt hatten, blieben sie unabhängig von der Konfession in den Augen der Führung der Republik ein immer gefährlicherer Gegner, den zu besiegen als wichtige Voraussetzung für den „umfassenden Aufbau des Sozialismus“ galt.
Ein zentrales Element der „Kulturrevolution“ war sowohl in der Republik der Wolgadeutschen als auch in der Sowjetunion insgesamt der Kreuzzug gegen Religion und Kirche, der 1929 parallel zur Kollektivierung einsetzte und mit dieser in unmittelbarem Zusammenhang stand. Im Zuge dieser in ihrer Größenordnung und Brutalität beispiellosen antireligiösen Kampagne wurden Geistliche drangsaliert und Repressionen ausgesetzt und die Kirchen ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Bevölkerung auf dem Verwaltungsweg geschlossen. Der 1. Kongress der Kolchosbauern (8.-11. Dezember 1929) erklärte es in seiner Beschlussfassung „Über den Angriff auf die Religion“ zu einer der wichtigsten Aufgaben der Kolchosbewegung, die Religion zu liquidieren und alle Kirchen zu schließen. Zwischen den Dorfsowjets kam es geradezu zu einem „Wettlauf“ um die schnellste Kirchenschließung, wobei der Termin der Schließung von Kirchengebäuden oft demonstrativ auf religiöse Feiertage gelegt wurde. In den 1930er-40er Jahren wurden mehrere Dutzend Gotteshäuser unterschiedlicher Konfession geschlossen und zerstört und die Geistlichen drangsaliert und repressiert. In einigen Ortschaften stießen die antireligiösen Aktionen auf massiven Protest von Seiten der Gläubigen. So gingen z.B. in Marxstadt am 5. Juni 1930 Tausende Bürger auf die Straße, um gegen die Schließung der lutherischen Kirche zu protestieren. Nach Einschätzung des Büros des Gebietsparteikomitees der WKP(b) trug der Protest antisowjetischen Charakter, so dass die Beteiligten repressiert wurden.
Unter den bestehenden Umständen war die Tätigkeit der Kirchen (Lutheraner, Katholiken, Orthodoxe) und umso mehr der Sekten faktisch halblegal, was dem Gemeindeleben insbesondere in den Dörfern jedoch keinen Abbruch tat. Der Beschluss des Kantonsparteikomitees der WKP(b), in allen Dörfern des Kantons Mariental in der Weihnachtsnacht vom 24. auf den 25. Dezember 1935 antireligiöse Diskussionen durchzuführen, konnte nicht umgesetzt werden. Gleichzeitig kamen nach Informationen des NKWD in vielen Dörfern einschließlich des Kantonszentrums abends Gruppen junger Leute zusammen, die als Christuskind verkleidet waren und von Haus zu Haus gingen, um unter den Kindern Geschenke zu verteilen und religiöse Lieder zu singen. Wenn sie die Kinder beschenkten, stellten einige dieser „Christuskinder“ Fragen wie z.B. an den Jungen Leo Junker: ob er für seinen zu zehn Jahren Haft verurteilten Vater bete, damit dieser überlebe und möglichst bald aus der Haft heimkomme.
Da die Religion kaum von Volksfeiertagen und nationalen Sitten und Gebräuchen zu trennen war, versetzte die antireligiöse Offensive des bolschewistischen Regimes auch der nationalen Kultur der Wolgadeutschen einen schweren Schlag. Ein solches Ausreißen der geistigen Wurzeln des Volkes konnte nicht spurlos vorüberziehen. Zusammen mit der unter den Wolgadeutschen massiv betriebenen ideologischen Propaganda ließ dies mit der Zeit die Zahl der Leute einer neuen „sozialistischen“ Prägung anwachsen – geistig verarmte, fanatische Anhänger des bolschewistischen Regimes, die die Welt ausschließlich durch die Brille des Klassenkampfes sahen und Schräubchen des Stalinschen Systems wurden. Mit dem Übergang zu den 1940er Jahren begann der Atheismus in der Republik der Wolgadeutschen immer tiefere Wurzeln zu schlagen, insbesondere unter Vertretern der jüngeren Generation, die bereits unter der Sowjetmacht geboren und deshalb für die kommunistische Propaganda empfänglicher waren.
Die Republik der Wolgadeutschen zur Zeit des Krieges
Am 22. Juni 1941 erfuhren die Wolgadeutschen wie alle Bürger der Sowjetunion vom deutschen Überfall auf die Sowjetunion. Die meisten Wolgadeutschen nahmen den Ausbruch des Krieges als persönliche Tragödie wahr und waren von patriotischen Gefühlen und Empörung über die Aggressoren erfüllt. Allein zwischen dem 22. und 24. Juni gingen bei den Wehrämtern unvollständigen Angaben zufolge 1.060 Anträge von Freiwilligen ein, die sich zum Kriegsdienst in der Roten Armee melden wollten.
In den ersten drei Kriegstagen wurden in der Republik der Wolgadeutschen erfolgreich Mobilisierungsmaßnahmen durchgeführt, bei denen Deutsche allerdings nur in Einzelfällen berücksichtigt wurden. In der Regel wurden nur Parteimitglieder mobilisiert, die Politarbeit leisten sollten. So wählte das Büro des Gebietsparteikomitees der WKP(b) am 21. August 1941 auf Weisung Moskaus 50 deutsche Parteimitglieder aus, die zur Roten Arbeiter- und Bauernarmee entsandt werden sollten. Viele deutsche Männer reagierten verständnislos, unzufrieden und sogar empört auf die Tatsache, nicht zur Roten Armee einberufen und an die Front geschickt zu werden. „Sowohl an die Parteiorgane als auch an die Wehrämter wenden sich viele Leute mit der Bitte, ihnen zu erklären, warum sie nicht genommen werden, und auf die Erklärungen, dass einstweilen nur Leute bestimmter militärischer Spezialisierung gebraucht werden, bitten sie, in jede beliebige Waffengattung aufgenommen zu werden“, hieß es in einem der nach Moskau gesandten Berichte.
Zugleich wurden bei einzelnen Deutschen „konterrevolutionäre, profaschistisch-nationalistische Äußerungen“ dokumentiert. So sollte der „frühere Kulak“ B. Kunstman behauptet haben, dass Hitler es bald bis Moskau schaffe, um dem Bolschewismus ein Ende zu bereiten, was „für uns“ nicht schlechter, sondern besser sei. Ein gewisser Krämer sollte Gerüchte gestreut haben, dass Japan bald die UdSSR angreifen werde. Der in Balzer ansässige I. Kem hatte im Gespräch mit seinen Nachbarn angeblich erklärt, er warte auf Hitler und wolle ihm helfen, wenn er da sei. Der Angestellte Reichert aus Engels hatte angeblich gesagt: „Im Krieg gegen die UdSSR wird Deutschland vor allem versuchen, hier bei uns in der Deutschen Republik Fuß zu fassen. Wir können aller Wahrscheinlichkeit nach in nächster Zeit die ersten Fallschirmjäger erwarten. Auf dem Territorium unserer Republik wird es erbitterte Kämpfe geben.“ Solche vereinzelten defätistischen Äußerungen, bei denen es sich größtenteils um haltloses und unverantwortliches Gerede unter Bekannten handelte, gerieten angesichts des vor dem Hintergrund des Kriegsausbruchs gegenüber den Sowjetdeutschen bestehenden Generalverdachts in die an die höchste Führung der Sowjetunion und an Stalin persönlich gerichteten Berichte und wirkten sich zwangsläufig auf die mit Blick auf das weitere Schicksal der Wolgadeutschen vom Zentrum getroffenen Entscheidungen aus. Unter den insgesamt 145 Personen, die im Zeitraum vom 22. Juni - 10. August 1941 in der Republik der Wolgadeutschen verhaftet wurden, wurden zwei der Spionage, drei terroristischer Absichten, vier Sabotageabsichten, 36 der Beteiligung an antisowjetischen Gruppierungen und konterrevolutionären Organisationen und 97 der Verbreitung defätistischer und Aufstandsäußerungen beschuldigt.
Im Wirtschaftsleben der Deutschen Republik war in den ersten Kriegswochen und -monaten das Einbringen der Ernte und die Getreidebeschaffung die wichtigste Aufgabe, die sowohl der Führung als auch den einfachen Arbeitern in Stadt und Land große Anstrengungen abverlangte. Über 40.000 Bewohner der Städte, Arbeitersiedlungen und Kantonszentren, bei denen es sich größtenteils um Schüler, Studenten und sonstige nicht in der Produktion tätige Personen handelte, wurden für landwirtschaftliche Arbeiten mobilisiert.
Auch in der Industrie brachte der Krieg weitgehende Veränderungen. Nach dem 9. August 1941 wurden die meisten industriellen Bauprojekte eingefroren. Die Marxstädter Fabrik „Kommunist“ wurde innerhalb eines Monats auf die Produktion von Munition für die Front umgestellt. Andere Unternehmen der Republik der Wolgadeutschen änderten ihr Produktionsprofil nicht, lieferten aber einen Großteil ihrer Produktion an die Front. Zahlreiche zivile und militärische Industrieunternehmen sowie verschiedene Einrichtungen und Lehranstalten wurden aus den westlichen Landesteilen in die Wolgarepublik evakuiert. Evakuiertes Vieh wurde auf die Kantone verteilt.
Auf Beschluss des Staatlichen Verteidigungskomitees der UdSSR wurden in der Republik der Wolgadeutschen im Juli-September 1941 sechs Gefechtslandeplätze gebaut, für deren Bau die die Bevölkerung mobilisiert wurde und Traktoren und Automobile der nahegelegenen Maschinen-Traktoren-Stationen und Kolchosen eingesetzt wurden.
Unter den Folgen der Neuverteilung finanzieller Ressourcen und der Notwendigkeit, Platz für die evakuierten Unternehmen, Institutionen und expandierenden Militärobjekte zu schaffen, hatte vor allem das Bildungssystem der Republik der Wolgadeutschen zu leiden, das innerhalb kürzester Zeit faktisch zusammenbrach. So wurden im August- September 1941 das Deutsche Landwirtschaftsinstitut, mehrere Fachoberschulen und das Pädagogische Institut aufgelöst. Auch viele Schulen mussten ihre Gebäude räumen.
Im Pressebereich blieben nur die Zeitungen „Nachrichten“, „Bolschewik“ und einige Kantonszeitungen erhalten, die in erheblich gekürzter Form nur noch dreimal wöchentlich erschienen.
Angesichts des Krieges wurden in der Republik der Wolgadeutschen Maßnahmen zur militärischen Ausbildung der Bevölkerung, zur Organisation der Flugabwehr sowie zur Verhinderung von Luftlandeoperationen und Sabotageakten durchgeführt. Bis zum 2. Juli wurden in Engels, in allen Kantonszentren und in der Siedlung Krasnyj Tektilschtschik Nahkampftrupps aufgestellt, die feindliche Fallschirmjäger und Sabotagekommandos rechtzeitig aufspüren und ausschalten sollten. Sieben dieser insgesamt 24 Kampfeinheiten, denen auch viele Deutsche angehörten, wurden von Deutschen geführt. Im Juli-August 1941 wurden in der Republik der Wolgadeutschen Einheiten der Volkswehr aufgestellt, unter deren insgesamt 11.200 Angehörigen auch 2.600 Frauen waren. Für Deutsche gab es keinerlei Beschränkungen, der Volkswehr beizutreten und sogar Kommando- oder politische Posten zu besetzen.
Im Juli 1941 wurde fast die gesamte erwachsene Bevölkerung der Deutschen Republik in eine große Gegenpropagandakampagne einbezogen, mit der die Sowjetführung versuchte, die Republik der Wolgadeutschen und die deutsche Bevölkerung der Wolgaregion zur Beeinflussung ihrer in Deutschland lebenden „Klassenbrüder“ und der Soldaten der Wehrmacht zu instrumentalisieren. Angesichts ihres primitiven Charakters und der für die UdSSR prekären Lage an der Front blieb diese Kampagne allerdings ohne nennenswerte Erfolge. Auf Weisung des ZK der WKP(b) schickte das Gebietsparteikomitee der Republik der Wolgadeutschen im Juli-August wöchentlich Berichte über „Fälle patriotischen Eifers und herausragender Arbeitsleistungen“ an das Zentrum, die offenbar auch zu propagandistischen Zwecken eingesetzt werden sollten. Laut diesen Berichten hatten die Schlosser der Maschinen-Traktoren-Station Wiesenmüller (Kanton Seelmann) F. Zimmerman, I. Ziegelman und der Dreher Ja. Eckel die tägliche Arbeitsnorm im Juli-August zu 200-300% und die Traktoristin der Maschinen-Traktoren-Station Basel (Kanton Unterwald) E. Schander zu 180% übererfüllt. Die Kolchosbäuerinnen L. Winterholzer und A. Keksel aus dem Dorf Manheim (Kanton Gnadenflur) sollten statt der von der Norm vorgegebenen 300 täglich über 500 Garben gebunden haben. Im gleichen Dorf erfand der Kolchosbauer K. Eifert spezielle Ackerhobel, mit denen sich die Arbeitsproduktivität beim Abtransport des Strohs unter dem Mähdrescher verdreifachen ließ. Die Arbeiterinnen und das ingenieurtechnische Personal der in der Stadt Balzer gelegenen Karl-Liebknecht-Fabrik hatten auch am freien Tag gearbeitet und die gesamte auf diese Weise erwirtschaftete Summe in Höhe von 10.770 Rubeln an den Verteidigungsfonds übergeben. Die Kolchosbauern der im Kanton Lisanderhöh gelegenen Stalin-Kolchose hatten für die verwundeten Kämpfer im Hospital der Stadt Engels jeweils einen Doppelzentner Butter und Milch, drei Doppelzentner Fleisch und 50 kg Käse gesammelt. Weite Verbreitung fand das Blutspenden. Hatte es vor dem Krieg im Kanton Balzer gerade einmal vier Spender gegeben, waren es im August 1941 1.005. Im August spendeten in Engels 470, in Schilling 233 und in Beideck 255 Personen Blut. In den übrigen Ortschaften waren es jeweils mehrere Dutzend oder Hunderte Leute.
Auch wenn die Deutschen nicht für die Front mobilisiert wurden, gab es in der kämpfenden Truppe viele Deutsche, die bereits vor Kriegsbeginn eingezogen worden waren. Unter diesen waren auch mindestens 16.000 aus der Wolgaregion stammende Deutsche. Als Ende 1941 alle deutschen Kriegsdienstleistenden demobilisiert wurden, hatten viele Frontkämpfer in den schwierigsten Kriegsmonaten im Sommer und Herbst 1941 bereits großen Patriotismus demonstriert und Eigenschaften wie Mut, Heroismus und hohe Kriegskunst an den Tag gelegt. So wurde z.B. dem aus der Republik der Wolgadeutschen stammenden Oberleutnant A.O Schwarz per Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 9. August 1941 zusammen mit anderen Frontkämpfern der Rotbannerorden verliehen, weil er sich bei Kämpfen in der Gegend von Lepel und Senno am 6.-10. Juli ausgezeichnet hatte. In dem Antrag auf Ordensverleihung hieß es zu der Heldentat des Kommandeurs des 2. Panzerbataillons des 35. Panzerregiments der 18. Panzerdivision des 7. mechanisierten Korps: „Während der vom 6.-10. Juli 1941 bei Senno laufenden Kämpfe zeigte das Bataillon von Oberleutnant Schwarz eine hervorragende Kampforganisation, in deren Folge der Feind durch das Feuer des Bataillons schwere Verluste erlitt. Es wurden acht feindliche Panzer und vier Panzerabwehrgeschütze zerstört. Dank der hervorragenden Manöver des Bataillons auf dem Schlachtfeld und des richtigen Feuersystems wurde der Feind in die Irre geleitet und seine Angriffsspitze vollständig zerstört.“ Per Erlass vom 10. August wurde Oberst N.A. Hagen, der vor dem Krieg mehrere Jahre eine in der Republik der Wolgadeutschen stationierte Division kommandiert hatte (der Stab war in Engels), mit dem Leninorden ausgezeichnet. Die von Oberst Hagen an der Front kommandierten Einheiten der 153. Schützendivision hatten Anfang Juli etwa eine Woche lang dem Ansturm des Feindes an der Zufahrt nach Witebsk standgehalten und dabei täglich 5-6 Panzer- und Infanterieattacken zurückgeschlagen. Als Hitlers Truppen die Verteidigungslinien im Nachbarabschnitt durchbrachen, waren die Soldaten von Oberst Hagen 18 Tage lang eingekesselt, bevor sie sich wieder mit ihrer Truppe vereinen konnten. Die 153. Division war einer der ersten Verbände der Roten Armee, die zu einer Gardedivision umgeformt wurden.
Am 24. August 1941 berichtete die Zeitung „Komsomolskaja Prawda“ unter der Überschrift „Wir rächen dich, Genosse!“ von der Heldentat des aus dem Dorf Schöndorf (Kanton Krasnyj Kut/ Republik der Wolgadeutschen) einberufenen Rotarmisten G. Hofman, der in Gefangenschaft trotz schrecklicher Folter sein Gelöbnis nicht verraten hatte. Die Zeitung brachte eine große Fotografie des angebrannten, blutbefleckten Komsomolausweises des 20-jährigen jungen Mannes, den die Faschisten mit einem Bajonett auf seine Brust gespießt hatten. Die gleiche Zeitung veröffentlichte am 28. August unter dem Titel „Gespräch mit dem Rotarmisten Heinrich Nejman“ eine Reportage des bekannten Schriftstellers Z. Solodar, mit der zusammen auch ein Porträt des Absolventen der Marxstädter Pädagogischen Oberschule abgedruckt wurde, der vier Junkers abgeschossen hatte.
Der vergebliche Versuch, die deutsche Autonomie als „Schaufenster des Sozialismus“ propagandistisch zu nutzen, die schweren Rückschläge an der Front, der Vormarsch der Wehrmacht in Richtung Wolga sowie die in Moskau eingehenden Berichte über „antisowjetische“, „defätistische“ oder „faschistische“ Äußerungen einzelner Bürger der ASSR der Wolgadeutschen ließen die sowjetische Führung schließlich beschließen, die ASSR der Wolgadeutschen aufzulösen und alle Wolgadeutschen in die östlichen Landesteile umzusiedeln. Die Vorbereitung der Deportation begann auf Grundlage der geheimen Beschlussfassung des Rats der Volkskommissare der UdSSR und des ZK der WKP(b) vom 26. August 1941 „Über die Umsiedlung aller Deutschen aus der Republik der Wolgadeutschen und den Gebieten Saratow und Stalingrad“, auf die am 28. August der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR „Über die Umsiedlung der in der Wolgaregion lebenden Deutschen“ folgte. Durch den Erlass wurde der zwischen den deutschen und nichtdeutschen Einwohnern der Republik der Wolgadeutschen entstandene tiefe Graben schlagartig sichtbar. Auch die offizielle Politik schwenkte umgehend auf den antideutschen Kurs ein. So berichtete der Erste Sekretär des Gebietsparteikomitees der WKP(b) der ASSR der Wolgadeutschen S. Malow am 2. September 1941 an Stalin, dass die „überwältigende Mehrheit der Werktätigen russischer und anderer (nicht deutscher) Nationalität den Erlass mit großer Zustimmung aufgenommen habe und diesen als eine ernsthafte Maßnahme zur Stärkung des Hinterlandes betrachte. Ein Großteil der deutschen Bevölkerung habe auf die Veröffentlichung des Erlasses mit einer feindseligen Haltung reagiert, die auf jede erdenkliche Weise von konterrevolutionären und profaschistischen Elementen angeheizt worden sei: „Von Seiten der Deutschen laufen die den Erlass betreffenden Äußerungen vor allem auf Versuche hinaus, die Behauptung zu widerlegen, dass die deutsche Bevölkerung in ihren Reihen Feinde des Sowjetischen Volkes und der Sowjetmacht versteckt“. Die Aktennotiz enthielt nicht ein einziges Beispiel der zum Wohle des Sieges über die Nationalsozialisten geleisteten patriotischen Arbeit der Wolgadeutschen, obwohl bis zum 28. August in jedem der regelmäßig an das Zentrum geschickten Berichte mehrere Dutzend solcher Beispiele angeführt waren und Malow selbst nur wenige Tage zuvor noch in einer ähnlichen Aktennotiz geschrieben hatte, dass die „politische Stimmung der Werktätigen der Republik der Wolgadeutschen“ gesund sei und die Arbeiter, Kolchosbauern und Intelligenzangehörigen bei der Umstellung der Arbeit auf die Kriegsbedingungen bestrebt seien, alles den Interessen der Front und den Aufgaben der Organisation der Zerschlagung des Feinds unterzuordnen.
Die Deportation der Deutschen aus der Wolgaregion begann am 30. August und wurde mit aller Härte umgesetzt. Das lässt sich den an den Volkskommissar für Innere Angelegenheiten L.P. Berija adressierten Berichten entnehmen, die die für die Aussiedlung zuständige Einsatzgruppe des NKWD täglich nach Moskau schickte. Besonders hart traf es jene, die bereits am 31. August mit den ersten Transporten verschickt wurden und in äußerster Eile ihren Besitz übergeben und buchstäblich innerhalb eines einzigen Tages ihre Sachen packen mussten. Dabei handelte es sich vor allem um Einwohner von Engels, Krasnyj Kut, Gmelinka, Pallasowka und anderen Ortschaften, in denen es Eisenbahnstationen gab, sowie die Bewohner der nahegelegenen Dörfer. Die Beladung der Transporte begann am 1. September. Die weitere Abfolge des Abtransports sollte (laut Plan) von der Entfernung zur nächsten Bahnstation abhängig sein. Die Einwohner der näher an den Bahnstationen gelegenen Dörfer wurden zuerst abtransportiert. Der Transport zu den Stationen erfolgte in der Regel mit Automobilen und Fuhrwerken oder per Schiff. In vielen Fällen mussten die Männer wegen fehlender Transportmittel viele Dutzend Kilometer zu Fuß gehen.
Am 3. September wurden planmäßig die ersten elf Züge (von zehn Eisenbahnstationen) auf den Weg geschickt. Im Zeitraum vom 3.-20. September wurden insgesamt 438.700 Personen (davon 365.700 aus der Republik der Wolgadeutschen) mit 188 Eisenbahnzügen aus der Wolgaregion nach Sibirien und Kasachstan verbracht, was eine der größten Deportationsoperationen des 2. Weltkriegs darstellte.
Durch die gemeinsame Beschlussfassung des Rats der Volkskommissare der UdSSR und des ZK der WKP(b) vom 6. bzw. 7. September 1941 „Über die Gebietseinteilung des Territoriums der früheren Republik der Wolgadeutschen“ wurde das zur Republik der Wolgadeutschen gehörende Territorium zwischen den Gebieten Saratow (15 Kantone) und Stalingrad (7 Kantone) aufgeteilt. Die Deportation der Deutschen aus der Wolgaregion fügte der Region und dem Land insgesamt in den schwersten Monaten des Kriegs einen kolossalen Schaden zu. Ein großer Teil der noch nicht eingebrachten Ernte ging verloren, ein erheblicher Teil des Viehs verendete oder wurde gestohlen, insbesondere in den entlegenen Gegenden der früheren Republik der Wolgadeutschen. Die Besiedlung und Erschließung der entvölkerten Territorien erfolgte mit großer Mühe und unter massivem Einsatz von Zwangsmaßnahmen. 1943 wurde nur etwas mehr als ein Drittel der in der früheren Republik der Wolgadeutschen vorhandenen Ackerfläche genutzt. Die Viehwirtschaft lag völlig danieder und brachte keinerlei Einnahmen. Viele Dutzend frühere deutsche Dörfer konnten selbst nach Kriegsende nicht wieder zu neuem Leben erweckt werden. Den Schlussakt der Deportation bildete im Frühjahr 1942 schließlich die Ausmerzung deutscher Toponyme auf dem Gebiet der früheren Republik der Wolgadeutschen. Alle früheren deutschen Städte und Dörfer wurden umbenannt. Mit den neuen russischen Namen wie Sowjetskoe, Komsomolskij, Krasnoarmejsk. Gwardejskoe, Perwomajskij usw. wurde auch die letzte Spur des langjährigen Lebens der Deutschen auf Wolgaboden getilgt.
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